Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 |
Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt.
Von Paul Flückiger
Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger.
Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prachtstück», sagt er zum Abschied. Der Handel ist damit besiegelt.
Ein beliebter Zwerg
Mit den Aussenmassen von 4,45 mal 2,05 Metern und einer Höhe von 2,45 Metern handelt es sich beim Kultmodell «N126» um den kleinsten Wohnwagen auf Polens Strassen. Konstruiert wurde er 1973 eigens für den sogenannten «Polski Fiat», eine Lizenzproduktion des «Cinquecento». Mit seinen nur 24 PS konnte der zwischen 1972 und 2000 immerhin 3,3 Millionen Mal gefertigte polnische Kleinwagen mit der Seriennummer «126p» die je nach Ausführung maximal 620 Kilo schwere «Niewiadowka» (N126) problemlos selbst durch hügeliges Gelände ziehen.
Heute sieht man auf den polnischen Strassen den «Polski Fiat» nur noch ganz selten, einen «Niewiadowka»-Wohnwagen hingegen kann man in den Sommermonaten durchaus antreffen. Der beliebte Wohnwagen der real-sozialistischen Volksrepublik Polen feiert nämlich seit ein paar Jahren ein Revival; und seit 2016 wird er sogar in einer Neuausführung wiederhergestellt.
Der Wohnwagenhersteller, die Traditionsfirma «Niewiadow», benannt nach dem gleichnamigen Ort in der Nähe von Lodz, wird Ende Jahr hundertjährig. Und er stellte zu Beginn natürlich noch keine Wohnwagen her, sondern chemische Waffen für das zwei Jahre zuvor zusammen mit dem Staat Polen wiederauferstandene Heer. Nach der deutschen Bombardierung des Werkes im Zweiten Weltkrieg kam man vom Christbaumschmuck über Küchengeräte und Kanus ab 1966 zum Zelt- und Wohnwagenbau. In den 1970er Jahren zählte das Werk bis zu 2500 Angestellte, heute sind es noch deren 350.
Familienferien in den 1970er Jahren mit dem «N126» in den Karpaten: Der Zugwagen ist ein Lada |
Ein paar spezielle Mitbringsel
Unter «Niewiadowka»-Fans kursieren wehmütige Erinnerungen an frühe Wohnwagenreisen im In- und Ausland. Von der «Traumreise ihres Teenager-Lebens» berichtet etwa Agata Stach, die mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder im «Polski Fiat» mit einer 4-plätzigen «Niewiadowka» an die bulgarische Schwarzmeerküste gefahren ist. Fünf Länder habe sie damals besucht. «Eigentlich konnten nur sehr kleine und kurze Eltern nebeneinander schlafen, wir Kinder hatten dagegen etwas mehr Platz», erzählt sie. Neben den Reisetaschen und dem Proviant aus Polen hätten sie auch eine «Sonderladung» mitgenommen: In die DDR hätten sie Kohl als willkommenes Mitbringsel und Handelsware gebracht.
An die Tschechoslowakei und Ungarn erinnert Agata Stach sich nicht mehr, ausser daran, dass es im Wohnwagen sehr eng gewesen sei. Da es darin keine Toilette gab, hätten sie immer auf Campingplätzen übernachtet. «In Rumänien wurde selbst nachts an die Wohnwagentür geklopft und gefragt, ob wir vielleicht «Biseptol»-Tabletten verkaufen würden», erinnert sie sich. Die Eltern hatten sich, um die Reise zu finanzieren, mit dem in Polen damals noch rezeptfreien Antibiotikum eingedeckt, dem in Rumänien schwangerschaftsverhütende Wirkung nachgesagt wurde.
Der Diktator Nicolae Ceausescu hatte Abtreibungen und Verhütungsmittel 1966 verbieten lassen; Abhilfe bei der Verhütung schafften polnische Touristen auf der Durchreise zum Schwarzen Meer. «In Bulgarien musste auch ich mithelfen, auf den Strassen von Sofia Nivea-Crème-Dosen zu verkaufen, eine Dose kostete einen Lew, und das Schwierigste war, dass Kopfnicken dort Nein bedeutet», erinnert sich Stach lachend. Freunde ihrer Eltern seien ein paar Jahre später mit ihrer «Niewiadowka» bis an den Bodensee gefahren, erzählt sie.
Westreisen waren in den 1970er Jahren für Polinnen und Polen grundsätzlich möglich, doch viel schwieriger finanzierbar. Neben dem oft erniedrigenden Schlangestehen für die Transit- und Ziellandvisa musste auch der Pass vor jeder Auslandreise neu bei der sogenannten Volksmiliz beantragt werden. Niemand durfte einen Reisepass einfach zu Hause haben. Reisen konnten vor allem Studierende und Rentner, Arbeitnehmer bekamen ihren Pass ohne Angabe spezieller Gründe oft gar nicht ausgehändigt.
Die Firma baute ab 1974 sogar eine Exportversion ihrer «Niewiadowka» für Westeuropa. Dafür wurden eigens Niederlassungen etwa in Italien und Deutschland gegründet, die jedoch auch andere polnische Plastik- und Glasfaserprodukte vertrieben. Mit einer Alpenüberquerung über den Grossen St. Bernhard wurde 1975 etwa mit Bernhardinerhunden für die Niederlassung in Turin geworben. Der Kleinstwohnwagen sei dank seinem geringen Preis auch im kapitalistischen Westen erfolgreich gewesen, wird in der polnischen Fachpresse berichtet.
Geschwächte Wiedergeburt
2020 hingegen verlief für die vier Jahre zuvor aus einer Teilkonkursmasse wieder gegründete Firma Niewiadow S. A. wegen der Corona-Pandemie nicht so rosig. Die Lancierung eines neuen Modells habe wegen des kompletten Lockdowns des Betriebes von März bis Mai auf das nächste Jahr verschoben werden müssen, berichtet der Exportchef Maciej Karbownik in einer Videonachricht. Zudem seien einige wichtige Wohnwagenmessen pandemiebedingt ausgefallen. «In Polen jedoch ist Camping ein Wachstumsmarkt», sagt Karbownik eher zuversichtlich.
Dazu tragen auch die gut tausend Angefressenen vom polnischen «Niewiadowka»-Fanklub bei. Auf ihrem Fanforum signieren sie unter dem Avatar mit «Errungenschaften», die sich in Kilometern und Wohnwagennächten in den Modellen «N126» «a» bis «nl» ausdrücken. Manche geben dazu noch den Zug-Pkw an, der vom Chrysler Grand Voyager bis zur altehrwürdigen polnischen «Syrena» (deutsch: «Meerjungfrau», Baujahre 1957–83) reicht. Der Fanklub organisiert ein jährliches «Niewiadow»-Wohnwagentreffen. Und in seinem Forum kann man sich mit tollen Tipps für die originalgetreue Renovierung der eigenen «Niewiadowka» eindecken.
Im Falle unseres gerade erst erstandenen, rund 40-jährigen «N126» dürfte diese umgerechnet 500 bis 1500 Franken kosten, zusammen mit dem Verkaufspreis des Dorfpolizisten billiger als ein Neukauf der heutigen Modelle, die ab 7500 Franken zu haben sind. Diese erfreuen sich im Fanklub ohnehin nur verhaltener Zuneigung. Hier treffen sich die Nostalgiker, um über die Originalfarben der Polsterbezüge und Ähnliches zu fachsimpeln.
Unser Polster ist rot und erinnert an Expresszugfahrten im noch kommunistischen Polen. Im Wohnwagen kann ich nicht aufrecht stehen, und zwei Kinder passen hier ebenso wenig hinein, als sich zwei Erwachsene zusammen hinlegen könnten. Dennoch macht es Spass, die Sperrholzplatten unter dem Polster zu öffnen und die Spanplatte am Sitzbankrand mit den dünnen Holzbeinen auszuklappen. «Das wird also das Kinderbett», sage ich mir und baue weiter. Die Eltern dazu sind auch diesmal zu lang geraten, so wie bei der Familie Stach, die 1975 bis nach Burgas am Schwarzen Meer reiste: 4000 Kilometer hin und zurück und fast 30 Nächte zu viert auf maximal 4 mal 2 Metern. Und doch die «Traumreise der Kindheit».
«Niewiadow» stellte zu Beginn natürlich keine Wohnwagen her, sondern chemische Waffen für das wiederauferstandene polnische Heer.
Der Text ist im Dezember 2019 in der NZZ erschienen.
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