Tschernobyl - das Leben am Rande des Todes. Und auch ein touristisches Ziel. |
An schönen Wochenenden besuchen Touristen den vor 35 Jahren explodierten und noch immer radioaktiv hochgradig versuchten Unglücksredaktor Tschenobyl.
Paul Flückiger, Pripjat
Die bunte Truppe ist an einem Dienstag im klimatisierten Minibus unterwegs. Kurz vor acht Uhr morgens hat er in der ukrainischen Hauptstadt Kiew in einer Seitenstrasse unweit des Polytechnikums 18 Passagiere aus diesmal sieben Ländern abgeholt. Sieben von ihnen sind Ukrainer, drei stammen aus Finnland, der Rest aus Westeuropa, Israel, China und Australien. Wie alle musste er die Daten seines Reisepasses ein paar Tage vorher einreichen, denn in die streng bewachte Zone wird niemand unangemeldet gelassen. Das Paar aus China verzichtet auf die gegen einen Aufpreis abgegebene weisse Schutzkleidung, kauft sich aber ein paar durchsichtige Plastic-Einwegstiefel. Ein älterer Australier hat sich gegen eine Gebühr einen Geigerzähler ausgeliehen. Ein paar weitere Touristen buchen sich das Abendessen in einer «sowjetischen Kantine» von Tschernobyl Stadt. Man hat viel darüber gelesen, jetzt will man es mit eigenen Augen sehen, vor allem natürlich den am 26. April 1986 explodierten Reaktorblock. Seit ein paar Jahren gibt es Tschernobyl im Tourenangebot von Kiew aus ab umgerechnet 90 Euro.
Die Fahrt zum äusseren Zonen-Kontrollpunkt Djatki dauert knapp zwei Stunden durch das nördliche Umland von Kiew. Dort werden die Pässe eingesammelt, die Reisegruppe muss sich nach vorher verteilten Nummern neben dem Bus aufstellen. Spätestens dies integriert die bunte Schar etwas. Da ist der Fotograf aus Finnland und eine Weissrussin aus der noch heute kontaminierten rund 100 Kilometer von Tschernobyl entfernten Stadt Gomel, die allerdings längst nach Israel ausgewandert ist. Sie beide weissen ziemlich genau, was hier am 26. April 1986 passiert ist.
Der GAU selbst forderte 43 Todesopfer, doch an den Langzeitfolgen sind Zehntausende gestorben. |
Bei einem Sicherheitstest explodierte damals der vierte Reaktorblock des gerade erst fertig gestellten AKW. Eine radioaktive Wolke bewegte sich zuerst nach Norden und dann über Westeuropa. Der GAU selbst forderte 43 Todesopfer, doch an den Langzeitfolgen sind Zehntausende gestorben. Ueber die genauen Zahlen wird bis heute gestritten.
Der finnische Fotograf will nun über 30 Jahre später vor allem die neue Schutzhülle des Havarie-Reaktorblocks Nummer 4 sehen. Die 108 Meter hohe 256 Meter breite und 162 Meter lange Spezialstahlhülle wurde sechs Jahre lang von einem französischen Konsortium gebaut. Im November 2016 über den Block geschoben soll das 2,4 Mrd. Franken teure Bauwerk die Umwelt für mindestens hundert Jahre vor dem noch zu Sowjetzeiten errichteten maroden Beton-Sarkophag austretenden radioaktiven Feinstaub schützen.
Am besten Aussichtspunkt auf die neue Stahlhülle wartet Simon auf die Reisegruppe. Er bettelt um Salami, nimmt zur Not aber auch Brot. Der fotogene Fuchs weiss genau, wann die Touristen kommen und ihm das Futter vorbeibringen. «Der sieht ja ganz normal aus!», staunt eine Finnin. Dann fährt der Bus nach Erklärungen von Reiseleiterin Maria zuerst auf Ukrainisch und dann Englisch an einen hochkontaminierten Waldrand für den nächsten Fotohalt. Der Australier will sich hier in Pose vor einem «Achtung Radioaktivität»-Warnschild ablichten lassen. Das macht er vor jedem solchen Schild und zeigt dabei mit der Hand ein Teufelszeichen.
Seit ein paar Jahren gibt es
Tschernobyl im Tourenangebot von Kiew aus ab umgerechnet 90 Euro. |
Nach Nahaufnahmen der Schutzhülle geht es weiter in die einstige sozialistische Musterstadt Pripjat, deren knapp 50000 Einwohner nach dem GAU in aller Heimlichkeit schleunigst evakuiert wurden. Die Anfahrt ins Stadtzentrum über die Lenin-Allee gestaltet sich schwierig, denn die Natur hat sich den Prachtboulevard in den letzten fast 35 Jahren weitgehend zurückerobert. Nachdem es bereits bei der Einfahrt Probleme mit einem zu neugierigen Schweizer gegeben hatte, der das Wachpersonal auszufragen begann, wartet hier eine neue Probe auf Reiseführerin Maria. Drei junge Ukrainer setzen sich trotz Verbots in einen ausgeweideten Wohnblock ab. «Wir wollten doch nur unsern Spass haben», rechtfertigen sie sich nach Drohung mit der Polizei.
Es sei oft schwierig, die Gruppen zusammenzuhalten, erzählt die Reiseführerin im Gespräch beim Spaziergang durch die Geisterstadt, doch nur so dürfe die Reiseagentur die Zone weiterhin besuchen. «Viele junge Ukrainer kommen nur hierhin, um ihr mitgebrachtes Bier zu trinken», klagt die junge Ukrainerin, deren Eltern einst in Pripjat wohnten. Ihr Vater sei als Liquidator eingesetzt worden, ein Onkel bei der Reaktorkatastrophe gestorben, erzählt sie. Manchmal seien solche Touren deshalb für sie frustrierend. «Doch in der Spitzensaison habe ich gar keine Zeit zu denken, ich komme abends um elf nachhause und muss morgens um fünf los, um die nächste Reisegruppe beim Polytechnikum zu treffen», sagt die Reiseleiterin. Das war allerdings vor der Corona-Pandemie. Bis zu 700 Touristen besuchen noch 2019 an schönen Wochenenden täglich Tschernobyl. Heute sind es nur noch ganz wenige, vor allem westliche Berater, Nato-Instrukteure, Diplomaten und deren Familien.
Text und Bilder: Paul Flückiger
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