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Viel Wind in Polens Wachstumssegeln


Warschau - eine moderne Metropole
Warschau - eine moderne Metropole

Polen hat als einziges EU-Land seit vier Jahren andauernden Finanzkrise keine Rezession zu verzeichnen. Vor allem Polens Hauptstadt Warschau boomt. Das böse Sprichwort von der „polnischen Wirtschaft“ hat sich an der Weichsel umgekehrt. Polens Wirtschaft zeigt sich nicht nur krisenresistent, im europäischen Vergleich boomt sie geradezu. Noch ist die weit verbreitete Armut jedoch auch in Warschau sichtbar.

Paul Flückiger, Warschau (2012)

Das Segel wächst und wächst. Bald soll Warschaus neuerster Prachtbau, ein Glas-Betonpalast des Stararchitekten Daniel Libeskind, mit 251 Luxusappartements den stalinistischen Kulturpalast, das alte Wahrzeichen der polnischen Hauptstadt, von Westen her abschirmen. Nach einem kurzen Baustopp im Krisenjahr 2009 wird der im Volksmund als „Segel“ bezeichnete Wolkenkratzer seit fast zwei Jahren wieder unermüdlich in die Höhe gezogen. Unweit locken seit vier Jahren schon die von Architekten nicht weniger gelobten „Goldenen Terassen“ die unermüdlich konsumfreudigen Polen. Das graue, realosozialistische Warschau ist damit endlich passe.

Noch eindrücklicher als Warschaus neue Wolkenkratzer und Einkaufspaläste sind die blanken Zahlen der polnischen und internationalen Statistiker. Sie zeigen, dass Polen als einziges EU-Land während der Finanz- und Wirtschaftskrise keine Rezession zu verzeichnen hatte. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF), der dieser Tage wieder allerhand Hiobsbotschaften verkünden muss, ist voll des Lobes. „Seit die Krise vor vier Jahren begann, ist Polens Wirtschaft um 15 Prozent gewachsen“, hebt Mark Allen, Osteuropa-Verantwortlicher des IWF hervor. Im polnischen Wirtschaftsministerium rechnet man auch im laufenden Jahr mit einem Wachstum von immerhin noch 2,7 Prozent.

Für Leszek Balcerowicz, den Vater der polnischen Wirtschaftsreformen Anfang der Neunzigerjahre, hat dieser Erfolg viele Gründe. Die polnische Wirtschaft sei stark diversifiziert, der Export nicht von ein paar wenigen Branchen abhängig, sagt Balcerowicz. „Auch ist die polnische Volkswirtschaft viel grösser als jene Tschechiens oder Ungarns“, erklärt Balcerowicz und habt hervor, dass sich Polen nie einen Kreditboom und die damit einergehende Überhitzung erlaubt habe. Dazu habe ausgerechnet die Kaczynski-Regierung (2005-7) durch Steuersenkungen die Wirtschaft „unabsichtlich stimuliert“.
Dies alles hat dazu geführt, dass die Zahlen für 2011 Ende Januar nicht wie andernorts nach unten, sondern nach oben korrigiert werden mussten. Die liberale Regierung unter Donald Tusk liess gerade erst mitteilen, das Wirtschaftswachstum für 2011 betrage nicht 3,9 sondern 4,3 Prozent. 

Wachstumsmotor sind dabei die vor allem durch EU-Strukturhilfegelder finanzierten öffentlichen Investitionen. Das ganze Land hat sich in eine Grossbaustelle verwandelt. Etwas zurückgegangen ist 2011 allerdings die Binnennachfrage, die lange Zeit wichtigste Treibkraft der polnischen Wirtschaft. Der Konsum brach gegenüber dem Vorjahr leicht ein, im vierten Quartal wuchs er gerade noch um 2 Prozent. Aer Anteil des Exports am Bruttoinlandprodukt ist in Polen mit 40 Prozent niedriger als im regionalen Vergleich (50-60%). Da Polen vor allem in den Euro-Raum exportiert und dort 2012 erneut eine Rezession droht, lauert dort laut IWF-Osteuropachef Allen die grösste Gefahr für Polens Wirtschaft.

„Polens Grundproblem lautet: Wie schaffen wir den Anschluss?“, sagt Balcerowicz in einem Sitzungszimmer der renommierten Warsaw School of Economics (SGH) nachdenklich. 1999 habe das Land 30 Prozent des deutschen Bruttoninlandprodukts erreicht, 2010 seien es 50 Prozent gewesen. Balcerowicz erzählt vom enormen Nachholbedarf nach fast fünf Jahrzehnten Kommunismus – und vom Dilemma des halbvollen oder halbleeren Glases. Wenige Hundert Meter entfernt kaufen sich seine Studenten in einer tristen Unterführung einen Cafe Latte XXL zum Mitnehmen in die U-Bahn. Der Lebensstil der jungen Hauptstädter unterscheidet sich kaum mehr von jenem in westeuropäischen Grossstädten. Lounge Cafes und Modeboutiquen schiessen in Warschau, aber auch regionalen Zentren wie Krakau, Wroclaw (Breslau) oder Lodz (Lodsch) wie Pilze aus dem Boden, doch die Mieten würden einen Monatsverdienst locker auffressen, wohnten die meisten Polen nicht auf engstem Raum oft aus rein finanziellen Gründen zusammen. 


Am Vortag der Konjunkturkorrektur nach oben, allarmierte die polnische Wirtschaftspresse vor der steigenden Jugendarbeitslosigkeit. Jeder Vierte Polen unter 24 hat keine Arbeit. Die meisten unter den restlichen drei Vierteln arbeiten mit so genannten „Müllverträgen“, das heisst weitgehend ohne Kündigungsschutz und für Löhne weit unter dem Landesdurchschnitt von rund 1000 Franken pro Monat. Auch die Gesamtarbeitslosigkeit ist im Januar wieder auf gut 13 Prozent geklettert.

Die Kehrseite der Warschauer Innenstadt-Glitzerwelt präsentiert sich unweit des gerade für die „Euro 2012“ errichteten Nationalstadions auf der östlichen Weichselseite. Die Einkaufsmeile des Stadtteils Praga kennt weder Designerläden noch internationale Modeketten. Stattdessen werden in jedem dritten Ladenlokal Altkleider „direkt aus Londen“ oder „aus der Schweiz“ angeboten. Doch zarte Pflänzchen des polnischen Wirtschaftswunders machen sich auch hier breit. So soll auch der Prager Hafen, wo jahrzehntelang nur noch abgesoffene Flusskähne vor sich hindümpelten, bald in eine exklusive Wohnanlage verwandelt werden. 

Dieser Text ist 2012 in der NZZaS erschienen.

Fot. M. Graczyk
 

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