Seit dem überragenden
Wahlsieg von Viktor Orbans Jungdemokraten (Fidesz) vor gut anderthalb
Jahren hat sich das Land an der Donau zu einem europäischen Testfall
für die bürgerlichen Freiheiten in Zeiten der Krise entwickelt.
Von Paul Flückiger (2012)
„Ungarn droht die
Errichtung einer Diktatur“, alarmieren 13 ungarische Ex-Dissidenten
in einem Neujahrsbrief an die Nation. Gerade ist eine neue Verfassung
in Kraft getreten, die Gewaltenteilung teilweise aushebelt,
bürgerliche Freiheiten beschneidet. Und der Nationalbank erst noch
die Unabhängigkeit nimmt. Dies trifft sich gut für Regierungschef
Viktor Orban, denn das Land schlitterte Ende der Woche immer
bedrohlicher dem Staatsbankrott entgegen. Doch endlich ist Brüssel
erwacht und schlägt gehörig Alarm. Denn die Unabhängigkeit der
Notenbanken ist der EU heilig. Dabei sollte mit Ungarn alles ganz
anders kommen.
„Heute beginnt für
Ungarn eine neue Zeitrechnung“, hatte Orban im April 2010
siegestrunken in Budapest verkündet. Seine Partei Fidesz hatte
gerade die Parlamentswahlen gewonnen. Doch es war kein gewöhnlicher
Sieg: Mit einer Zweidrittelmehrheit bekam der Fidesz die Möglichkeit,
Verfassungsänderungen im Alleingang durchs Parlament zu bringen. In
seiner Antrittsrede versprach Orban – es liest sich heute wie ein
schlechter Witz - die „Wiederherstellung der demokratischen
Normen“. Diese sah der einstige Anti-Kommunist nach acht
post-kommunistischen Regierungsjahren bedroht. Ausserdem wolle er das
Defizit senken, sagte Orban, verwehrte sich gegen „ein Diktat“
der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Letzterer hatte
dem Land 2008 mit 20 Mrd. Euro aus einer schweren finanziellen
Bedrouille geholfen, dafür aber unpopuläre Reformschritte
gefordert.
Am Donnerstag nun kroch
Orban dem IWF zumindest verbal wieder zu Knien. Man wolle „ohne
Vorbedingungen“ Verhandlungen über einen neuen Stützkredit
aufnehmen, verkündete seine Regierung. Erste informelle Gespräche
sollen Mitte nächster Woche in Washington stattfinden. Offiziell
verhandelt der IWF nicht mehr mit Budapest, weil die Nationalbank
gerade einen Teil ihrer Unabhängigkeit verloren hat. Vor diesem
Schritt hatten der IWF sowie die EU noch im Dezember eindringlich
gewarnt. Vergebens.
Spätestens jetzt reibt
sich Europa die Augen: Was ist bloss aus Ungarn geworden? Wohin
steuert der einstige Musterdemokrat Viktor Orban sein Land? 22 Jahre
ist es her, seit der junge, unrasierte Strubbelkopf mit einer
Brandrede gegen die sowjetischen Besatzungstruppen seine politische
Laufbahn begann. Es war Mitte Juni 1989, der Eiserne Vorhang stand
noch, und nur in Polen packten die Kommunisten langsam ihre Koffer.
Neun Jahre später wurde Orban zum ersten Mal Regierungschef. Im Mai
2004 führte er Ungarn als Oppositionsführer mit in die EU und damit
in die europäische Wertegemeinschaft.
Heute scheint Orban auf
dem besten Wege, diese endgültig zu verlassen. Ungarische
Intellektuelle vergleichen den 48-Jährigen mit Vladimir Putin. Der
bisher unangefochtene Regierungs- und Parteichef Orban hat Ungarn
mittels seiner Zweidrittelmehrheit Ungarn zu einer Regentschaft mit
autoritären Zügen umgebaut. Die Washington Post hatte ihn kürzlich
gar mit dem weissrussischen Autokraten Aleksander Lukaschenko
verglichen – eine reichlich überzogene Analogie, wenn man bedenkt,
dass der Weissrusse seit 15 Jahren sämtliche Wahlen fälschen lässt
und seine politischen Gegner kurzerhand ins Gefängnis wirft. Orban
hingegen hatte im April 2010 zwei Runden völlig freier und fairer
Parlamentswahlen für sich entschieden und seitdem in seinem Land
völlig faire Lokalwahlen organisiert.
Dafür, dass auch auf
Gemeindeebene der Fidesz gewann, kann der vor allem im Ausland
umstrittene Regierungschef nichts. Dies alles ist vielmehr die
Konsequenz aus jahrelanger Misswirtschaft. 2006 hatte der
postkommunistische Regierungschef Ferenc Gyurscany zugegeben, dass
seine Regierung um des erneuten Wahlsieges Willen, ökonomische
Grunddaten gefälscht worden seien. „Kein Land in Europa hat solche
Scheisse gebaut wie wir“, nahm Gyurscany kein Blatt vor den Mund,
„wir haben die letzten anderthalb Jahre nur gelogen“. Gyurscanys
„Lügen-Rede“ führte in Budapest zu tagelangen
Strassenschlachten und entpuppte sich als zweite Chance für Orban.
Die Postkommunisten hielten die Amtszeit zwar noch durch, doch hatten
sie sich in den Augen der Ungarn mit Korruptionsskandalen völlig
diskreditiert – eine Hypothek, die heute schwer auf der eh schon
schwachen Opposition lastet.
Nur zwei Monate brauchte
sein Fidesz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte im Juni
2010, um sich den Staat unterzuordnen. Weitgehend unbemerkt von der
EU setzte der Fidesz zuerst das Quorum für die
Verfassungsrichterwahl soweit herunter, dass die Regierungspartei
Mitglieder künftige alleine ernennen konnte. Sofort wurde der Chef
des Rechungshofs ersetzt, die Sicherheitsdienste bekamen loyale
Fidesz-Vorgesetzte, der alte Polizeichef und Hunderte Staatsbeamte
wurden entlassen. Wehe, wer sein Amt nach der Abwahl Orbans im Jahre
2002 angetreten hatte! Im Sommer 2010 wurde der Orban-Intimus Pal
Schmitt vom Parlament zum Staatspräsident gewählt. Damit war
endgültig Schluss mit den „checks-and-balances“. Niemand mehr
konnte der marginalisierten Opposition zu Hilfe eilen oder gar von
Amtes wegen Verfassungsklagen anstrengen.
Vor seinem mehrheitlich
patriotisch gesinnten Volk spielte der Populist Orban gekonnt die
Grossungarn-Karte. Den bis zu fünf Mio. Auslandungarn verteilte er
erst ungarische Pässe; bei den nächsten Parlamentswahlen sollen sie
auch gleich für den Fidesz mitstimmen können.
Doch Orban, der von den
Sozialisten einen miserablen Staatshaushalt übernommen hatte, wollte
mehr. Es folgte eine Bankensteuer, die vor allem die ausländischen
Eigentümer ungarischer Banken traf. Dann wurde private Rentenfonds
verstaatlicht, um damit das Budgetloch zu stopfen. Im November
intervenierte erstmals verhalten die EU. Sie erreichte nichts. Orban
setzte sein umstrittenes Mediengesetz, das die Pressefreiheit in
wesentlichen Punkten einschränkt, also just am Tag der Übernahme
der EU-Ratspräsidentschaft in Kraft. Die Regierung schuf kurzerhand
eine keiner demokratischen Kontrolle unterstellte
Sonderaufsichtsbehörde, ein Verfahren, dass sich seitdem auch in
andern Bereichen wiederholte. Bereits am 1. Januar 2011 wurde ein
Verfahren gegen eine regierungskritische Radiostation eröffnet.
Brüssel protestierte zwar, doch verlangte sie nur technische
Änderungen. Dies machte Orban den Kompromiss leicht, rettete aber
die demokratiefeindlichen Kernelemente seines Mediengesetzes.
Erst kurz vor Neujahr, das
Gesetz knebelte die Presse schon zwölf Monate lang, protestierte
US-Aussenministerin Hillary Clinton in einem ungewöhnlich scharfen
Brief an Orban gegen diese Einschränkung der Pressefreiheit. Kurz
zuvor hatte das ungarische Verfassungsgericht überraschend Passagen
des Mediengesetzes per Mai 2012 gestrichen. „Der Rechtsstaat
funktioniert ja noch in Ungarn“, jubelten die Optimisten. Doch die
seit 1. Januar 2012 geltende neue Verfassung biegt das alles wieder
im Sinne Orbans zurecht. Dass kritische Medien auch weiterhin ans
Gängelband genommen werden, zeigt der Verweigerung einer neuen
Sendelizenz für das Budapest Klubradio. Reportern des
regierungskritischen Internetportals index.hu wird zudem künftig der
Zutritt zum Parlament verwehrt. Auch hier könnte Lukaschenko Orban
noch ganz andere Mittel – Arbeitslager für unbotmässige
Journalisten etwa – verraten, doch für ein EU-Mitglied geht Orban
im Umgang mit der Vierten Macht in der Tat bedenklich weit.
Noch als EU-Ratspräsident
hatte Orban den Zuständigkeitsbereich des Verfassungsgerichts
einschränken lassen. Im Herbst 2011 kam der Populist dann
Hunderttausenden von Hypothekarzinsschuldnern väterlich zu Hilfe und
setzte kurzerhand den Wechselkurs für den Schweizer Franken und den
Euro fest. Und das zu einer Zeit, als der heimische Forint immer
weiter einbrach. Die Verluste müssen seitdem die Banken tragen. Nun
flüchteten die ersten Investoren aus Ungarn. Doch Orban zog einfach
wieder gegen die EU und den IWF vom Leder und kündigte neblig
baldige Hilfe „aus dem Osten“ an. Doch weder China, noch Russland
scherten sich um Ungarns Geldnöte.
Inzwischen wird in
Budapest vermutet, Orban wolle zur Schuldentilgung die
Devisenreserven der Nationalbank anzapfen. Mit den 35 Mrd. Euro
könnte er sich vielleicht bis zum nächsten Wahltermin über Wasser
halten. Notfalls müsste er ihn auf 2013 vorziehen. Ein Regierung
dementiert solche Pläne. Doch die Erfahrung nach 19 Monaten Orban
zeigt, dass in Ungarn fast alles möglich geworden ist. Allerdings
ist nun neben Brüssel auch die Zivilgesellschaft erwacht. Zum
Jahreswechsel demonstrierten so viele Ungarn auf den Strassen der
Hauptstadt, wie seit der Wende von 1989 nicht mehr. „Diktator!
Diktator!“, schrieen sie in wütenden Sprechchören. Doch Orbans
neues Wahlgesetz macht einen Regierungswechsel schwierig. Die neue
Verfassung wiederum garantiert praktisch eine Fidesz-Herrschaft über
eine Abwahl hinaus. Den Ungarn bleibt also nur die EU und der IWF,
die eine neue Geldspritze an klare, auch politische Bedingungen
knüpfen könnten.
Dieser Text ist 2012 in der NZZaS erschienen.
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