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Ukrainische Juden organisieren die Verteidigung des Kiewer Maidan mit


Ukrainische Juden organisieren die Verteidigung des Kiewer Maidan
Ukrainische Juden organisieren die Verteidigung des Kiewer Maidan

Die Ansammlung Zehntausender von Wutbürgern im Zentrum von Kiew ist zum Pulverfass geraten. Auf die Opposition hört fast keiner mehr, doch Kriegsveteranen auf dem Maidan wollen ein Blutbad verhindern.

Text und Fotos: Paul Flückiger, Kiew (2014)

Nennen wir ihn Chaim, denn der Mann in der Lederjacke will zur Sicherheit incognito bleiben. Nach dem Scheitern der „orangen Revolution“ wollte er der Ukraine den Rücken kehren und nach Israel auswandern, doch nun ist er seit paar Jahren wieder zurück. „Der neue Protest auf dem Maidan liess mich kalt bis die ersten Schüsse auf wehrlose Demonstranten fielen“, erzählt der durchtrainierte Mann in einer Kaffeestube unweit des besetzten Stadtzentrums. Die Barrikade in dieser Gasse schmilzt dahin wie alle andern, doch Chaim erzählt, alle Schützwälle würden nun mit Sand verstärkt. „Alles lässt sich organisieren“, sagt Chaim und erzählt, wie er von der Strasse weg zum Anführer einer Hundertschaft von Selbstverteidigern gewählt wurde.

Als die Reifen im Regierungsviertel brannten, glättete Chaim die Wogen und überzeugte manchen Heisssporn, dass es besser sei, Fluchtwege frei zu räumen sowie Barrikaden zu halten, als die Sicherheitskräfte des Staatspräsidenten mit Steinwürfen herauszufordern.

Verglichen mit seinen Erfahrungen in der israelischen Armee sei das alles Kinderkram – auf beiden Seiten der Barrikaden, erzählt der Banker aus Kiew, der seit drei Wochen nur noch eines will: Die Selbstverteidigung des Maidan so zu professionalisieren, damit weitere Todesopfer verhindert werden können.

Auf dem Maidan halten sich heute ständig rund 15000 Demonstranten auf. Es handelt sich dabei um den harten Kern der je nach Wochenende bis zu einer Million Regierungsgegner. Je mehr Gewalt die Regierung einsetzte, desto zahlreicher wurden jene Wutbürger, die im Zentrum von Kiew ihre Zelte aufstellten oder einen der Schlafsääle in den drei noch besetzten Gebäuden zu ihrem Heim auserkoren haben. Hier kochen und schlafen sie, diskutieren oder spielen Pingpong – vor allem aber bereiten sie sich auf den Sturm der Regierungskräfte vor. Der Tag X. stehe nach der Olympiade in Sotschi bevor, sind viele überzeugt.

Den Verhandlungsbemühungen der drei im Westen bekannten Oppositionsführer Klitschko, Jatseniuk und Tjanibok vertrauen auf dem Maidan nur noch wenige. „Reden kann jeder, wir wollen Taten“, sagt Sergej, der sein Haar in der Facon der Bilderbuch-Kosaken trägt – vorne lang, die Schläfen abrasiert. Auf die geflohenen Leibeigenen, die seit dem 16. Jahrhundert am damals dünn besiedelten Dnieprlauf Wehrbünde gründeten, berufen sich auf dem Maidan heute fast alle. Die ukrainische Nationalbewegung hat sich auf sie berufen, denn die Kosaken kämpften gegen die Herrschaft der Polen (in Westen), der Tataren (im Süden) und des russichen Zaren (im Osten). Dass es dabei auch zu Judenpogromen kam, wissen die meisten auf dem Maidan indes nicht.

Kiewer Maidan 2014 Ukraine
Kiewer Maidan 2014


Unter den Maidan-Kosaken dominieren die Westukrainer, die oft auch den Partisanenchef Stefan Bandera als Galionsfigur kultivieren, denn er wurde zu Sowjetzeiten verfolgt. Es gibt es Liberale und Nationalisten, Künstler und Kiffer, Fussballhooligans und Sozialrevolutionäre – ein breites Spektrum, das im postkommunistischen Raum kaum westliche Rechts-Links-Schema passt. Als besonders radikal gilt der konspirativ tätige „Rechte Sektor“, in dem manche den militärischen Arm der Partei „Swoboda“ des Rechtspopulisten Tjanibok sehen wollen.

Auch Chaim, der Sabbat hält und nur koscher isst, ist Manager einer jener von den Kosaken inspirierten Hundertschaften, ukrainisch „Sotnia“ genannt. „Ich will zeigen, dass auch Juden auf dem Maidan vertreten sind und mitkämpfen“, sagt er und zeigt SMS-Nachrichten, die er von orthodoxen Ukrainern bekommen hat. „Für sie bin ich ein Bruder geworden“, erzählt er stolz. Nur ein einziges Mal sei er auf dem Maidan antisemitisch abgekanzelt worden. In seiner „Sotnia“ sind weitere Juden, einige haben in Israel Armeedienst geleistet. Dies alles sollte laut Chaim weitere ukrainische Juden davon überzeugen, dass der Maidan für Demokratie und Menschenrechte kämpfe und kein rechtsnationalistischer Haufen sei. „Das Gerede vom Rechtsextremismus der Regierungsgegner ist Janukowitschs letzte Waffe“, meint er.

Josef Zissels, ein bekannter jüdischer Intellektueller in Kiew, bezeichnet entsprechende Medienberichte als „Teil einer von Moskau inspirierten Propagandaschlacht“. Zissels hat in zwei Monaten zwei Fälle von Antisemitismus auf dem Kiewer Maidan und den 45 weiteren Protestcams im ganzen Land registriert. In Deutschland habe es 2013 hundertmal mehr antisemitische Übergriffe gegeben als in der Ukraine, wehrt der Vertreter des „Jewish World Congress“ ab.

Den Maidan als Pulverfass zeigt indes der Gründungsversuch einer anarchistischen „Sotnia“ an der Prorizna-Barrikade am vergangenen Sonntag. Die rund 50 jungen Männer und Frauen werden im Nu von doppelt so vielen aggressiven „Maidan-Selbsverteidigern“ umstellt. Viele haben Skinheadsymbole auf den Helmen, einer schwingt gar eine Axt. Die Anarchisten ziehen schliesslich unter wüsten Drohungen ab. „Der Testosteronpegel ist höher als der Grips im Kopf“, sagt der wachhabende Afghanistanveteran. Er sei politisch neutral, jedoch gegen jede Diktatur, erklärt er und halt sich raus. Die Opposition habe wenig Autorität und niemand habe die Kontrolle über den Maidan, umreist tags darauf im Gespräch Ihor Smeschko, der frühere ukrainische Geheimdienstchef, das Problemfeld aus der Sicherheitsperspektive.

Chaim stellt sich auf einen langen Kampf gegen Janukowitsch ein. Vielleicht sollte er den Flügel wechseln und die Opposition organisieren, sinniert er. „Langfristig gäbe das bessere Resultate“, schätzt der jüdische Kämpfer. Das Handy klingelt, es ruft der Dienst am Maidan. Barrikaden müssen ausgebessert werden. 

Diese Reportage ist 2014 in der NZZaS erschienen.



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