Hunderte von Litauern feierten die Sonnenwende bereits in der Nacht
zum Samstag nach altem heidnischem Ritus. Besonders Jugendliche
schliessen sich der Neu-Heidnischen Bewegung an.
Paul
Flückiger,
Vilnius (2008)
Vytautas
und Agote sitzen bei strömendem
Regen im Gras und flechten Blumenkränze. Als jüngster von drei
Brüdern wählt Vytautas vor allem Birkenblätter, die Eichenblätter
sind für den Älteren vorbehalten; seine Freundin Agote zupft sich
derweil Margeritten und Kornblumen aus dem Bündel frischer
Wiesenblumen. „Perkunas macht uns dieses Jahr einen Strich
durch die Rechnung“, sagt der junge Architekturstudent in seinen
Tarnhosen. Perkunas ist der alte Donnergott, einer von rund 500
Naturgöttern, die die Litauer bis zur Christianisierung im
späten 14. Jahrhundert angebet hatten. Für Vytautas und und seine
Freundin Agote ist der mächtige Donnergott auch heute näher als
Jesus Christus. Denn die beiden gehören der neuheidnischen
„Romuva“-Bewegung an. Zehn Kilomter nördlich von Vilnus feiert
diese „Rasos“, die Sonnenwende, deren höchstes Fest.
Verkiai
heisst der Heilige Ort hoch über
dem Stadtfluss Neris. Im frühen 14. Jahrhundert soll hier eine
Festung gestanden haben und unweit wohnte der sage nach der
heidnische Oberpriester Lizdeika. Letzterer sowie die Sonnengöttin
Saule werden denn auch von den Organisatoren der Feier, die sich alle
vor dem Regen unter ein Plasticzelt verkrochen haben, immer wieder in
Gesängen angerufen - bis die Sonne durch die Wolkendecke bricht.
Sigitta,
die Hexe, begrüsst
nun die ersten Gläubigen, die in weiten Leinenkleidern aus ihren
Autos gestiegen sind, mit warmen Kräutertee, den sie nach altem
Rezept über dem offenen Feuer gekocht hat. Die Hexe, in ihrem
weltlichen Beruf Biologin, darf dieses Jahr den heiligen Ort nicht
betreten. Doch die 60-jährige bekleidet ein verantwortungsvolles
Amt: Sie sagt die Zukunft aus Blumensträussen voraus. Vor genau 30
Jahren habe sie „Rasos“ zum ersten Mal gefeiert, erinnert sich
die Frau. „Wir waren jung und naiv, und dachten nicht darüber
nach, ob dies den Autoritäten passt oder nicht“, erzählt sie. Die
Lieder kannte sie von der Grossmutter; ihre Eltern hatten –
eingeschüchtert vom sowjetischen Besatzungsregime – Angst, sich zu
alten litauischen Traditionen zu bekennen.
Während
die Hexe von den Argusaugen des KGB erzählt, wird das rituelle
Rasos-Horn, eine Art verkürztes Alphorn geblasen. Männer und Frauen
gehen darauf in getrenntem Reigen durch ein Blumentor, sammeln
sich auf der Heiligen Wiese und tanzen um zwei blumengeschmückte
Stangen. Der Architekturstudent Vytautas hat sich nun eine graue
Filzkutte über seinen Tarnanzug gestülpt.
Noch
vor Sonnenuntergang ruft die heutige Oberpristerin, Inija
Truskiniene, Gabija, die Göttin
des Herzens und des Feuers, an. Sie opfert ihr Salz, Wasser und
Getreidekörner. „Den ganzen Tag hat es geregnet, nun aber brenne
das Feuer“, predigt ihr männlicher Gegenpart und hebt eine heilge
Holzschale zum Trunk. Dann wird Brot verteilt. 4000 Gläubige betreue
er, doch der Staat verweigere „Romuva“ jene finazielle
Unterstützung, die etwa die katholische Kirche geniesse. „Dabei
waren wir Heiden zuerst in Litauen“, protestiert Jonas Trinkunas
nach dem zentralen Opfergebet im Gespräch.
Seine
Anhänger
– darunter auffallend viele Jugendliche - scheint dies wenig zu
kümmen. Hunderte tanzen nun um ein Feuer und sammeln sich kurz vor
Mitternacht zum Fackelzug an den Fluss Neris. Dort werfen die
heiratswilligen Frauen ihre Blumenkränze ins Wasser. Begleitet von
altertümlichem Singsang im Schein der Fackeln treiben diese auf
Vilnus zu – die boomende Hauptstadt Litauens.
REPORTAGE
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