Wenige hundert Meter östlich der
EU-Aussengrenze findet die Jugend im weissrussischen Brest trotz
Diktatur immer wieder Schlupflöcher. Lust statt Frust bietet die
Grunge-Metal-Band „Sciana“ – die Wand.
Paul Flückiger, Brest (2013)
Andrej, Ljocha und Zmitser trinken
Paulaner. Die deutschen Bierflaschen mit den weissrussischen
Zollvermerken stapeln sich auf dem Plastictablett. Im „Pit Stop“,
einem angesagten Schnellrestaurant am Ostrand von Brest, fallen die
drei jungen Männer vor allem deswegen auf, weil sie frei und nicht
mit gedämpfter Stimme sprechen. Ljocha ist auch noch gepierced,
nimmt den Kopfhörer selten ab und besonders fröhlich. Die drei
Freunde machen seit nunmehr vierzehn Jahren ihre Stadt mit einem
bunten Gemisch aus Punk, Jazz und Metal unsicher. Im wahrsten Sinn
des Wortes, denn der Autokrat Aleksander Lukaschenko mag keine
Rockmusik, wie Leadsänger Andrej Klimus berichtet.
„Sciana“, Wand, nennen sie ihre
Band. Das passt bestens zu Brest. Denn keine 500 Meter westlich der
fünftgrössten Stadt Weissrusslands beginnt die Europäische Union.
Der Fluss Bug trennt die einstige Vorstadt Terespol, die heute in
Polen liegt, von Brest, dessen Hauptbahnhof jahrzehntelang das
westliche Eintrittstor zur Sowjetunion bot.
Die monumentale
Stalin-Architektur mit dem Sowjetstern zeugt noch heute von jenen
Zeiten, die 1991 mit der Unabhängigkeit Weissrusslands ein Ende
hatten. Doch der sozialistische Drill ist noch allgegenwärtig.
Mürrische Grenzsoldaten mit Tellermützen kontrollieren hier Pässe,
Visen und Gepäck. Unweit vom Bahnhof steht schon die erste
Leninstatue. Dazu kommt auch heute das wachsame Auge und Ohr des
Sicherheitsdienstes KGB, dessen angsteinflössender Name der seit 19
Jahren herrschende Lukaschenko nicht geändert hat.
Doch die Bandmitglieder von „Sciana“
fürchten sich nicht. „Ich schreibe keine politischen Texte,
sondern philosophische“, unterstreicht Klimus. Saxophonist Ljocha
meldet sich bereits wieder ab. Er stülpt den Kopfhöhrer über,
dreht den Sound auf und sattelt sein Velo Richtung Moskauer-Strasse.
„Problemlos können wir nur in den
Osten, bis Wladiwostok, doch das interessiert uns nicht“, sagt
Zmitser Nazarau, der „Sciana“ und anderen Brester Bands als
Manager zur Seite steht. Die Russen interessierten sich nicht für
weissrussische Rockmusik, klagt er, Weissrussland habe weder
Showbusiness noch Musikmarkt und die EU sei so weit weg.
Staatspräsident Lukaschenko hat sein Land dazu mit der brutalen
Niederschlagung von Protesten politisch isoliert. Am liebsten würde
er sein Volk wie einst das DDR-Regime mittels einer Mauer einsperren,
sagen Demokratieaktivisten nicht nur in Brest.
Leadsänger Andrej holt eine neue
Ladung Paulaner am Tresen, dann holt er gegen die Politik der
Isolation aus. Wie alle Bandmitglieder habe er sich ein Jahresvisum
für Polen kombiniert, erzählt er. „Isoliert fühle ich mich eher
wegen der Sowjetmentalität hier“, sagt der hagere Musiker Ende
Zwanzig. Reisen könne man auch in Gedanken, lautet seine Devise. Mit
einem Einkommen von 450 Dollar pro Monat kann der junge Familienvater
sowieso keine grossen Sprünge machen. Seine Ausbruchsversuche führen
ihn ins Land des Rock’n’Roll. Wie Pilze nach dem Regen könnten
die Rockfans wachsen, singt er auf der neuen CD. Klimau ruft Bob
Marley, Nirwana und den neuerdings verbotenen Sowjetrocker Wiktor Zoi
an.
„Wir fordern Veränderung!“,
covern zwei Teenager Zoi in der Sowjet-Strasse, der schicken Brester
Fussgängerzone. Wer etwas Geld hat sitzt bei Cappuchino und Kuchen
im Strassencafe und lauscht dem Geklampfe, doch einen blauen
Tausendrubelschein (10 Rappen) spendet dennoch selten einer. „Wir
spielen dennoch, denn es macht Spass“, sagt ein milchgesichtiger
Blondschopf. „Antun können sie uns nichts, denn für die 14-tägige
Administrativhaft sind wir noch zu jung“, beruhigt sein Freund.
REPORTAGE
REPORTAGE
Kommentare
Kommentar veröffentlichen