Der Vater des polnischen
Wirtschaftswunders und frühere Nationalbankpräsident Leszek
Balcerowicz will neue Reformen sowie Bürgerkontrolle über die
Politik in Polen und EU. "Wir müssen Versprechen der Politiker demaskieren und die Kosten aufzeigen" - sagt er.
Fot. Paul Flückiger
Fot. Paul Flückiger
Paul Flückiger, Warschau (2012)
Paul Flückiger: Polen wird
jüngst in Brüssel und Finanzkreisen als Gesundungsbeispiel gelobt.
Basiert dieser Erfolg auf Ihrer Schocktherapie Anfang der
Neunzigerjahre?
Leszek
Balcerowicz: Polens Wirtschaftsleistung hat sich seit der Wende 1989
verdoppelt, was das Spitzenresultat unter allen Ländern im einstigen
sowjetischen Einflussbereich darstellt. Wir haben
Marktreformen durchgeführt - liberalisiert, privatisiert und
diversifiziert - sowie vertrauenswürdige Institutionen wie die
Bankenaufsicht und eine starke, unabhängige Nationalbank aufgebaut.
Letztere verfolgte eine disziplinierte Geldpolitik, um die Inflation
in Griff zu kriegen. Polen war auch eines der ersten Länder, das
eine Schuldenbremse in der Verfassung verankerte.
- Wurde Polen
deswegen von der Krise 2008/2009 verschont und hatte bisher keine
Rezession?
- Die
restriktive Geldpolitik schuf bestimmt eine gute Voraussetzung. Damit
verhinderten wir jenen extremen Kreditboom, den die USA aber auch
Spanien und Irland hatten. Wir hatten auch keinen öffentlichen
Ausgabenboom wie etwa Griechenland oder Portugal.
- Unter welchen Voraussetzungen kann diese Erfolgsgeschichte für Polen
so weitergehen?
- Erstmals in der Geschichte können wir Westeuropa sogar überholen.
Dazu brauchen wir jedoch zusätzliche Reformen. Um der Überalterung
die Stirn zu bieten, hat die Regierung Tusk mutig das Rentenalter auf
67 Jahre erhöht. Eine Senkung des Mindestlohns würde wohl auch die
hohe Jugendarbeitslosigkeit verringern. Doch der Anteil der privaten
Institutionen zu gering, und die Effektivität muss steigen. Das
benötigt Regierungsinitiativen
und Deregulierungsschritte, um Fehler in der früheren Gesetzgebung
auszumerzen.
- Produziert denn das Parlament in Polen besonders viele schlechte
Gesetze?
- Schlechte Gesetze sind kein polnisches Problem. Doch auch bei uns
wächst der Einfluss von Interessensgruppen, die bürokratische
Regelungen zu ihren Gunsten gesetzlich zu verankern suchen und den
Einfluss des Staates weiter ausbauen wollen. Deshalb habe ich den
Think-Tank „Forum für die Entwicklung der Zivilgesellschaft“
(FOR) gegründet, der der Regierung auf die Finger schaut.
- Ist dies nicht die Aufgabe der politischen Parteien?
- Parteien genügen nicht, zumal die Qualität der politischen
Auseinandersetzung der wirtschaftlichen Entwicklung weit hinterher
hinkt. Vielmehr muss der Druck der Bürgergesellschaft zunehmen. Sie
muss Wahlversprechen demaskieren, in dem sie die Kosten aufzeigt, die
diese nach sich ziehen. Viele Politiker lieben es nämlich, als
fälsche Samichläuse aufzutreten. Dagegen helfen Think-Tanks, die
mit Politikern wie die Rating-Agenturen auf den Finanzmärkten
umgehen. Wähler sind wie Investoren, die Informationen brauchen.
- Da trauen Sie den Bürgern aber ganz schön viel zu!
- Natürlich müssen wir durch ein attraktives Angebot erst das
Interesse wecken. Ein Beispiel ist die „Freiheits-Bibel“, die ich
rechtzeitig zu Weihnachten herausgegeben habe. Sie enthält über
1000 Seiten bürgerliche Grundlagentexte zu einem sehr günstigen
Preis. Jedes Jahr schreiben wir auch einen Comic-Wettbewerb zu Themen
wie Staatsverschuldung oder Inflation aus. So holen wir die Jugend
ab.
- Gibt es auch einen Euro-Einführungscomic? Überhaupt, wann ist es in
Polen soweit?
- Die Comics legen die Basis zum Verständnis ökonomischer
Zusammenhänge. Bei der Euro-Einführung sollten wir endlich von der
Datumsdiskussion weg kommen und uns stattdessen auf die Reformen
konzentrieren, etwa die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
- Ist die Gemeinschaftswährung vor dem Hintergrund der Euro-Krise für
Polen überhaupt noch erstrebenswert?
- Da wir in der EU den
Euro nun einmal eingeführt haben, sollten wir ihn auch behalten,
denn alles in allem funktionierte er gut. Wichtig ist jedoch, dass im
Falle von Griechenland oder Italien Entschuldungsschritte kein
Feigenblatt für Reformen sein dürfen. Polen sollte beim eigenen
Euro-Beitritt gleich die nördlichen EU-Staaten verstärken können.
- Sollten die Polen in einem Referendum über den Euro abstimmen?
- Das ist nur Zeitverschwendung.
* Dieses Interview ist im Dezember 2012 in der Neuen Zuercher Zeitung am Sonntag erschienen.
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