Vier Jahre faschistische Besatzung und sieben Jahrzehnte Sowjetunion haben das Judentum in Odessa zugrunde gerichtet. In letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Gemeindemitglieder dank Bildungsangeboten, Suppenküchen und viel Pragmatismus jedoch mehr als vervierfacht.
Text und Fotos: Paul Flückiger, Odessa (2010)
Vier junge Männer stehen zusammen und
diskutieren heftig über ein Glaubensproblem. In den hinteren Bänken
der Zentral-Synagoge von Odesssa haben derweil modern gekleidete
Jugendliche in schwarzen Kipas ihre Gebetsbücher zum Studium
aufgeschlagen. Aus dem Koscher-Laden in einem Seitenschiff dringt
dumpfes Gemurmel, zwei Gläubige kaufen gerade ukrainische
Milchprodukte und Fertiggerichte aus Israel ein. In der Sowjetzeit
diente die 1850 im florentinischen Stil erbaute Synagoge an der
Jewrejskaja ulitsa, der jüdischen Strasse, als Basketballhalle. Dann
fand Rabbi Shlomo Baksht seinen Weg nach Odessa und die
Stadtverwaltung gab das weitläufige Gebäude 1996 an die jüdische
Gemeinde zurück. Am Anfang habe der Rabbi noch hundert
praktizierende Juden in der Millionenstadt Odessa gefunden, heute
zähle alleine diese Gemeinde über 400 Mitglieder, erzählt Michael
Brodman stolz. Baksht stammt wie Brodman aus Israel; in die
Südukraine geführt hat sie der Traum von einem jüdischen Revival
in Osteuropa.
Kaum eine Stadt eignet sich besser
dafür als Odessa, das einstige Zentrum des Judentums im Russischen
Zarenreich. Das vergnügungssüchtige jüdische Odessa der 20er-Jahre
hat mit seinen Ganovenliedern bis heute als Mythos überlebt. Bei
Kriegsbeginn waren noch mindestens ein Drittel der Einwohner Juden.
Doch allein an drei Tagen im Oktober 1941 ermordeten Hitlers
rumänische Handlanger zusammen mit der SS 34000 jüdische Einwohner;
ebenso viele starben später in den Ghettos und KZs. 1989 waren
wieder sechs Prozent der Stadtbevölkerung jüdisch, rund 65000
Einwohner. Doch Armut und Antisemitismus trieben danach Tausende in
die Emigration.
„Heute beobachtet man uns hier genau,
doch Antisemitismus spüre ich keinen“, erklärt Brodman, ein
Aktivist der orthodoxen Organisation Tikva. Den krisengeschüttelten
Stadtbewohnern mit jüdischen Wurzeln bietet sie koschere
Gratismahlzeiten und -bildung. „Das zieht“, erklärt der
28-jährige Lehrer mit einem pragmatischen Lächeln.
Eine Autofahrt durch das verruchte
Arbeiterviertel Moldawanka erinnert nur noch entfernt an Isaak Babels
literarische Ganovenfiguren. Dunkle Gestalten torkeln durch den
Schneematsch, in Heizungsschächten schnüffeln obdachlose
Jugendliche Leim. Mittendrin unterhält Tikva , in einem freundlich
renovierten ehemaligen Fabrikgebäude an der Golowskaja-Strasse ein
Heim für jüdische Mädchen. Im obersten Stock sitzen zwei Teenies
in einem der vielen Computerräume und schreiben Schularbeiten. Julia
im plüschigen Aufenthaltsraum nebenan ist bereits 21 und stammt aus
der Hauptstadt Kiew. Über ihren sozialen Hintergrund möchte sie
nicht sprechen - laut Statistik sind 80 Prozent der Tikva betreuten
Kinder Sozialwaisen - verlassen, vernachlässigt, misshandelt. „Nach
der Matura möchte ich Psychologie studieren, dann heiraten und eine
jüdische Familie gründen“, erzählt die junge Frau.
Die rund 80 Mädchen im Heim stammen
aus allen Teilen der einstigen Sowjetunion. Dutzende von Mitarbeitern
suchen dazu die staatlichen Kinderheime zwischen Weissrussland und
Kirgisien ab, halten Kontakt zu Sozialdiensten und Standesämtern.
„Wichtig ist einzig die Mutter“, erklärt Brodman. Auch ins
Tikva-Knabenheim und ins Kleinkinderhaus wird nur aufgenommen, wer
gemäss Halacha jüdisch ist. Täglich werden die Kinder mit dem Bus
in die jüdische Schule gebracht. Eine ähnliche Rundumversorgung
bietet in Odessa auch die orthodoxe Organisation „Chabat“, die
unweit der Zentral-Synagoge ihr eigenes Gotteshaus unterhält.
„Vor 20 Jahren versammelten sich am
Sabbat noch 20 Alte in der einzigen Synagoge, heute habe ich Tausend
jüdische Schüler, das stimmt mich optimistisch“, erzählt der
Schuldirektor von Tikva, Mark Dreyermann. Der Stolz des Ukrainers ist
der von den Sowjets gegen alle ästhetischen Regeln eingezogene
zweite Stock der Zentral-Synagoge. Seit 2002 befindet sich dort die
„Jüdische Universität Odessa“. 265 Studierende haben fünf
Fakultäten zur Auswahl, ihre Diplome sind in der Ukraine staatlich
anerkannt. „Ich will mein Leben fortan eng mit dem Judentum
verbinden“, erklärt der Jus-Student Pawel Kutscherenko. Seine
Eltern stammten zwar aus Odessa - die Mutter Jüdin, der Vater
Ukrainer - aber den Glauben habe man zuhause nicht gelebt. Dawid
Bakajew ist in den Süden gezogen, um am Schwarzen Meer
Finanzwissenschaften zu studieren. „Ich will in Odessa bleiben,
denn hier gibt es viele Millionäre“, sagt er und verbreitet
unversehens doch noch einen Hauch von Odessa-Mythos. Später einmal
könne er immer noch nach Israel auswandern.
Diese Reportage ist 2010 in der NZZaS erschienen.
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