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Die Sehnsucht nach einer ganz normalen europäischen Ukraine

Vieles in der Ukraine gemahnt heute an die „orange Revolution“ von 2004. Doch eine neue, junge Generation mit weniger Illusionen demonstriert für EU und gegen Staatsmacht.

Von Paul Flückiger (2013)

Die Oppositionspolitikerin Lesja Oborets hat eine Vermisstenliste zusammen gestellt. Ende Woche enthielt sie noch 13 von einst 34 Namen. Vermisst werden nach der Gewaltorgie der Sondereinheit „Berkut“ in der Nacht von Freitag auf Samstag vor einer Woche auf dem Majdan vor allem Jugendliche. Die 16-jährige Marina T. zum Beispiel. Ihre Mutter Swetlana hatte sie am letzten Tag im November in der Stadt Browary im Osten von Kiew wie immer möglicht lieb verabschiedet. Vermisst wird auch die 18-jährige Lilja C. ebenfalls aus Browary. Von Lilja heisst es, sie sei am Sonntag noch einmal auf dem Majdan gesehen worden. Damals hatten rund 350000 wütende Bürger gegen die brutale Räumung des zentralen Unabhängigkeitsplatzes von den letzten paar Hundert demonstrierenden Studenten protestiert. Sie zogen mit EU- und ukrainischen Flaggen durch die Strassen und forderten den Rücktritt von Regierung und Präsident.

Letzter hatte sich am Vortag des öffentlichen Missmuts über seine Absage an die EU-Integration kurz vor dem Gipfel von Vilnius auf diese Art entledigen versucht. Schon einmal hatten ihn Proteste der sicher geglaubten Macht entledigt – während der „orangen Revolution“. 62 Demonstranten seien in jener Nacht spitalreif geprügelt worden, sagte am Freitag Boxweltmeister Witalij Klitschko, der auf dem Majdan in Abwesenheit der eingekerkerten Julia Timoschenko zum informellen ukrainischen Oppositionschef geworden ist. Die Regierung unter Mykola Asarow hat sich inzwischen für den Sonderpolizeieinsatz entschuldigt, nicht aber der starke Mann der Ukraine, Staatspräsident Wiktor Janukowitsch. Auch wurden keine Verfahren gegen beteiligte „Berkut“-Kräfte eröffnet.

Stattdessen wurden Mitte der Woche neun Demonstranten der Strassenschlachten von Sonntag auf Montag verhaftet. Sie sind durchschnittlich etwas älter als die Vermissten. Doch die Tendenz ist dieselbe: Es handelt sich um aufgeweckte junge Bürger mit Internetprofilen und zu Filmkameras umfunktionierten Handys. Der Designer Mikola Lasaretski (23) und der Snowboardverkäufer Jaroslaw Pritulenko (21) gehören dazu. Dem jungen Designer kann man im Internet dabei zuschauen, wie er die Schläge der „Berkut“-Kräfte wehrlos auf der Strasse liegend vor dem Präsidentenpalast abzufangen versucht. Nun drohen den beiden 5-8 Jahre Haft wegen angeblicher Gewalt gegen die Staatsmacht. „Jaroslaw war weder in einer Partei noch einer politischen Organisation“, erzählt dessen Mutter Ljubow Pritulenko gegenüber der Internetzeitung „Ukainskaja Prawda“.


Viele Demonstranten auf dem Majdan in Kiew und weiteren Städten vor allem in der Westukraine sind wie Marina Mikola und Jaroslaw – einfach junge Europäer, die im falschen Land zur Welt kamen. Es ist die Hoffnung auf eine Ukraine als ganz normales europäisches Land, die das Gros der Demonstranten auf die Plätze treibt. „Wir wollen auch in der EU studieren!“ stand während eines Besuchs zu Beginn der Proteste in Kiew entwaffnend banal auf einem Transparent einer demonstrierenden Studenten-Aktivistin. Viele ukrainische Jugendlichen im Westteil des Landes waren schon einmal im benachbarten Polen. Statt tagelang für das Visum anzustehen, möchten sie Reisefreiheit; statt Beamtenwillkür und Korruption mehr Achtung und Transparenz.

„Die Ukrainer haben den Glauben daran verloren, dass Proteste etwas ändern können“, erklärte im Gespräch ein junger Passant unweit des Kiewer Majdan. Vor neun Jahren habe er als Teenager bei der „orangen Revolution“ teilgenommen, erzählte er. Danach aber hätten sich Timoschenko und der „orange“ Präsident Juschtschenko indes nur um die Macht gestritten, statt dem Volk zu helfen. „Alles bei uns so korrupt“, klagte der Mann noch und wandte sich dann resigniert ab.

Direkt unter dem Majdan befindet sich ein teures Einkaufszentrum. Doch neunzig Prozent der Ukrainer können sich nicht leisten, was dort angeboten wird. Eine dünne Oligarchenschicht hat sich zugleich längst Zweitwohnungen in der EU erworben. Gerichtsurteile kauft sie sich genauso wie Journalisten, Politiker und Beamte. Arbeitsplätze hingegen verkauft sie statt sie, wie das in der EU üblich, auszuschreiben. Alle zwei Jahre würde sie entlassen, berichtet eine Einwohnerin des Grenzstädtchens Rawa Ruska, und kaufe sich eben wieder neu in die Stelle ein. Im landwirtschaftlich geprägten Grenzgebiet zur EU – die Ukraine grenzt neben Polen an die Slowakei, Ungarn und Rumänien – kommt die Mehrheit nur mit Schmuggel und Schwarzarbeiten im Nachbarland über die Runden.


In der reicheren, schwerindustrialisierten und russischsprachigen Ostukraine geht es etwas besser; doch auch dort sucht etwa 1 Mio. Ukrainer Arbeit zu besseren Löhnen im nahen Russland. Auf dem Kiewer Majdan trifft man wenige Ostukrainer. Für sie ist die EU geographisch wie auch mental weit weg. Auch stammen Janukowitsch und Asarow aus dem Ostteil des Landes und umsorgen seine Bewohner nun im Blick auf die nächsten Wahlen hin mit Privilegien. 

Diese Reportage ist 2013 in der NZZaS erschienen.

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