In der Ukraine bricht die zivile
Unterstützung für die im Donbass kämpfenden Truppen nach. Schuld
sind Geldknappheit, Vertrauenskrise und gewöhnliche Abnutzung.
Paul Flückiger, Truskawez
Neben den Mineralquellen von Truskawez
steht ein gepanzerter Lastwagen auf dem Kurplatz. Kinder haben die
feldgrüne Ladefläche erklommen und feiern mit viel Gekreisch ihren
Sieg. Gegenüber versucht die Bürgerorganisation „Drohobytsch SOS
Armeehilfe“ die Erwachsenen zum Spenden zu animieren. Die Hülse
eines grosskalibrigen Geschosses beschwert Postkarten mit einem
poetischem Grundtext. Es genügt, Name, Telefonnummer und einen
persönlichen Gruss an die ukrainischen Frontsoldaten im Donbass dazu
zu schreiben und die Karte in einen selbst gebastelten Briefkasten zu
werfen. Daneben steht die eine Spendenbüchse. Ein paar
20-Hrywna-Scheine liegen darin – umgerechnet je ein Franken.
Das ist viel bei einem Mindestlohn von
umgerechnet knapp 55 Franken im Monat. Doch das Ziel zwei Jeeps an
die Front zu schicken gerät damit in weite Ferne. Ihre Organisation
könne auf die Solidarität einiger lokaler Geschäftsleute zählen,
berichtet Iwanna Djatschok. „Doch die Leute spenden immer weniger“,
sorgt sie sich. Und dies trotz den Nachrichten über ein
Wiederaufflammen der Kämpfe im Donbass.
Die junge Mutter steht seit Stunden
mitten im lauten Stadtfest des berühmten Kurorts. Sanatorien aus
Zeiten der UdSSR und Villen der heutigen Oligarchen umgeben ihre
Aktivistengruppe aus der nur fünf Kilometer entfernten Nachbarstadt.
Dieses sammelt neben Geld auch Unterwäsche, Toilettenartikel,
Lebensmittel, Bücher und Kerzen für die Soldaten an der Front,
deren Zahl wegen der Mobilisierungswellen anwachst. 9000 Schokoladen
und 50 Tarnanzüge hätten sie bereits geschickt, heisst es auf einem
Poster.
„Wir müssen uns immer neue Aktionen
ausdenken, damit überhaupt noch Geld reinkommt“, klagt Djatschok
und verweist neben der Wirtschaftskrise auf die im Alltag kaum
spürbaren Reformen. Manchmal frage sie sich, ob der Krieg im Donbass
für die Mächtigen nicht einfach eine willkommene Ausrede sei, sagt
die Bürgeraktivistin. Sie ist nicht die einzige. Auch unter den
Stadtfestbesuchern ist immer wieder zu hören, die Korruption habe
sogar noch zugenommen, die Oligarchen hielten sich gut und die
Erfüllung von Wahlversprechen würde mit Verweis auf den Krieg immer
wieder aufgeschoben.
In der Tat jedoch ist die finanzielle
Lage der Ukraine dramatisch. Erst Ende Woche warnte Goldmann Sachs
vor einer drohenden Zahlungsunfähigkeit noch im Juli. ((Damit droht
am Rande der EU ein zweites Griechenland.)) Der Zerfall der
Landeswährung Hrywna hat dazu die Konsumentenpreise innerhalb
Jahresfrist um 74 Prozent anwachsen lassen. Ein paar
Grundnahrungsmittel sind heute gar mehr als doppelt so teuer wie zu
Beginn der russischen Aggression in der Ostukraine.
Auch Andrej Leskiw vom „Zivilkorpus
Azow“ in der knapp 40 Kilometer Richtung polnische Grenze
entfernten Stadt Sambir beklagt die Demobilisierung der
Zivilbevölkerung. Der junge Historiker hatte sich im Frühling 2014
direkt vom Maidan weg für ein Freiwilligenbataillon verdingt und ein
halbes Jahr bis zur Umzingelung bei Ilowajsk gekämpft. Dort hatten
die Kiewer Regierungstruppen ihre erste schwere Niederlage einstecken
müssen nachdem Russland massenweise reguläre Truppen in den Donbass
verschoben hatte. „Die Bedrohung wächst, doch hinter der Front
herrscht Inerz“, schimpft Leskiw, der heute Mühe hat genügend
junge Männer für seine Wehrübungen zusammen zu kriegen. „Wir
arbeiten, feiern und kämpfen gleichzeitig – diese Schizophrenie
droht uns den Sieg zu kosten“, sagt der junge ukrainische Patriot.
Bereits neun Opfer hat der Krieg im
Osten allein in der westukrainischen Kleinstadt Sambir gekostet.
Hinter ihren beleuchteten Heldenportraits neben dem Schloss
versammeln sich jene Jugendlichen, die kein Geld für die Kneipe
haben. Taras wartet bange auf sein Arbeitsvisum für Polen. Sein
Trinkkollege Ihor indes hat keine Beziehungen im EU-Nachbarland. „Es
gibt nur zwei Wege: Entweder du wanderst aus, oder du wirst
zwangsmobilisiert und landest im Donbass“, sagt er fatalistisch.
Diese Reportage ist 2015 in der NZZaS erschienen.
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