Mit Haus und Garten
schaffen es die Einwohner des ärmsten EU-Staates über die Runden. Bulgarien befindet
sich wieder im Aufruhr, doch es sind die reicheren Stadtbewohner, die
gegen die Regierung demonstrieren. Auf dem Lande sind viele auch
dafür zu arm.
Paul Flückiger,
Kjustendil (Juni 2013)
Ein heftiger Sommerregen
hat dem Verstärker den Rest gegeben, das Mikrophon auf dem zentralen
Platz von Kjustendil bleibt stumm. Die zwei Dutzend Demonstranten
haben sich derweil unter ein nahes Plasticzelt geflüchtet. „Wir
wollen Arbeit zu normalen Löhnen“, sagt einer. „Weg mit den
Verbrechern in der Regierung!“, ein anderer. Iwan Kostow ist seit
fünf Monaten fast jeden Tag hier. Der einstige Zollbeamte hat
zuletzt als Turnlehrer gearbeitet, doch seit zwei Jahren ist er
arbeitslos. „Wir haben ein Haus, ein Auto und einen Garten, doch
wir sind in die Unterschicht abgestiegen“, klagt drei knapp
Fünfzigjährige. „Meiner Tochter rate ich nur noch zur
Auswanderung“, sagt Kostow bitter.
"Garten von Bulgarien"
Die Bahnstrecke von der
Hauptstadt Sofia ins gebirgige Kjustendil im Süden des Landes säumen
zerfallende Fabriken und brache Felder. Nur in den paar Ebenen werden
Weizen oder Kartoffeln angebaut. Bei Kjustendil jedoch biegen sich
die Kirschbäume. „Hier ist der Garten von Bulgarien“, sagt
Bürgermeister Petar Paunow und lächelt. Er stellt eine Schale
Chriesi hin, offeriert Kaffee. Der sportlich gekleidete Amtsträger
lässt sich zuerst nicht anmerken, dass er im Schatten von Sofia in
zweiter Kadenz vor allem die Armut verwaltet. 16 Prozent beträgt
hier die Arbeitslosigkeit. Von den sechs Kombinaten aus
kommunistischer Zeit ist noch eines übrig geblieben. Wer Arbeit hat,
verdient durchschnittlich 450 Lewa (rund 300 Franken) im Monat –
landesweit sind es etwa 500 Franken. Und dies alles sieben Jahre nach
dem EU-Beitritt.
„EU-Standards erreichen
wir einzig bei den Preisen“, sagt Sozialamtsleiterin Radoslawa
Wasewa. Die junge Frau lacht bitter über ihren Witz bevor sie
darlegt, was die Gemeinde mit ihren beschränkten Mitteln gegen die
Armut tun will. „Zum Glück haben selbst die Plattenbaubewohner
einen eigenen Gemüsegarten“, sagt sie. Im Sommer bedeute dies
viel, im Winter jedoch ächzten alle unter exorbitanten
Stromrechnungen.
Bulgarien und EU-Strukturhilfegeldern
In Pernik, einer
abgewickelten Schwerindustriestadt zwischen Sofia und Kjustendil,
hatten Demonstranten im Februar kurzerhand die Vertretung der
Stromgesellschaft gestürmt. Die Gemeinde zahle dem Armen seit Jahren
Stromzuschüsse von 65 Lewa (rund 40 Franken) pro Person, erzählt
Vize-Bürgermeisterin Ilinka Nikiforowa, doch das reiche nicht weit.
„Wenn sich die materielle Situation nicht schnell verbessert, gibt
es im Herbst schwere Sozialproteste“, ist sie überzeugt. Pernik
rettet heute alleine die Nähe zu Sofia. Die reiche Hauptstadt ist
über eine mit EU-Strukturhilfegeldern gebaute Autobahn in einer
Viertelstunde erreichbar.
Dennoch ächzt Pernik
unter der demographischen Krise, die nach der Wende die Provinz
jenseits der Schwarzmeerküste erfasst hat. Pernik hat seit 1989
jeden fünften Einwohner verloren; das abgelenere Kjustendil gar ein
Drittel. „Die Jungen ziehen nach Sofia oder gleich ins Ausland,
ihre Eltern lassen sie mittellos zurück“, klagt auch das Sozialamt
von Kjustendil. Um die 200 Franken im Monat hat fast jede
Grossfamilie bisher aus dem Ausland erhalten, doch nun kommen viele
Gastarbeiter mit leeren Händen aus Südeuropa zurück.
Die Wirtschaftskrise sei
längst zur sozialen Krise mutiert, erklärt Sozialminister Hasan
Ademow, der nach dem Regierungswechsel gerade erst ins Amt gekommen
ist. „Das Volk setzt hohe Erwartungen in uns; wir tun das beste,
zumindest die Ärmsten rasch zu schützen“, überzeugt er im
Gespräch. Es klingt verzweifelt. Abends versammeln sich im
Regierungsviertel bereits wieder die Demonstranten. Bei den letzten
Protesten kam es gar zu Selbstverbrennungen. Dies sei die letzte
verzweifelte Möglichkeit, Leid zu kommunizieren, meint Haralan
Aleksandrow, Sozialanthropologe und Armutsforscher der Universität
Sofia.
Zwei Geburten auf 12 Todesfälle
Im Bergdorf Bogoslow bei
Kjustendil scheint die Welt dagegen noch in Ordnung. Der Pope hat zum
Kirchweihschmaus eingeladen. Eine nahrhafte Suppe, Brot und Brause
werden aufgetischt, ein paar Gäste ziehen dazu Selbstgebrannten aus
der Jackentasche. Dorfvorsteher Rumen Weselinow träumt von einer
Kanalisation für seine 350 Bürger. Noch sorgt die EU hier für
Aufbruchstimung. Im letzten Jahr habe er nur zwei Geburten auf 12
Todesfälle ins Gemeindebuch eintragen können, klagt er
schliesslich. „So sieht es überall in den bulgarischen Dörfern
aus“, sagt Weselinow mit seinen erdigen, schwieligen Händen.
Wenn alle weg sind, bleibt
noch das Behindertenheim für Erwachsene hinter dem Roma-Quartier.
Tiro und Zwetana mussten hierhin umziehen als der einzige Sohn aus
Sofia in die USA ausgewanderte. Walja erzählt stolz von ihrer
Tochter in Zürich. „Ohne ihr Geld hätte ich nicht überlebt“,
sagt sie und betet horrende Medikamentenpreise herunter. Das Heim war
ursprünglich als Gefängnis geplant und eignet sich weder für
Betagte noch für Behinderte. Doch die Direktorin krempelt gerade
alles um. Statt die Insassen ans Bett zu fesseln, werden Konzerte
besucht. Jemand hat zwei mobile Rampen geschweisst, damit die
Rollstühle leichter in den Bus geschoben werden können. „Geldmangel
ist in vielen andern Gemeinden nur eine Ausrede“, sagt Kjustendils
Bürgermeister Paunow bei einer Schale Kirschen.
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