Pilgerfahrt orthodoxer Christen im Osten Polens.
Fot. P. Flückiger
Paul Flückiger Grabarka (2003)
Die meisten Pilger haben ihre Autos auf einem der drei
Parkplätze am Waldrand abgestellt und legen die letzten paar hundert Meter zu
Fuss zurück. Alle paar Dutzend Meter warten orthodoxe Mönche mit Opferbüchsen
auf die Wanderer, die sich zum Tag des Heiligen Spasa, des Erlösers, auf eine
Anhöhe unweit des ostpolnischen Dorfes Grabarka zwanzig Kilometer von der
weissrussischen Grenze aufgemacht haben. Der Hügel wird hier selbst auf den
offiziellen Wegweisern «Heiliger Berg» genannt. An seinem Fusse streben die
Gläubigen, die mit auffallend östlichem Zungenschlag sprechen, zuerst zu einem
Bächlein, wo sie sich Füsse, Arme und Gesicht waschen. Das dazu verwendete
Taschentuch wird danach auf die Zweige eines der umliegenden Büsche gehängt.
Mönche, so ist zu erfahren, werden die Tücher nachts einsammeln und verbrennen.
Angebliche Heilkräfte
Dem Wasser dieses Ortes werden Heilkräfte zugeschrieben,
seit im Jahre 1710 während einer Choleraepidemie geheilt wurde, wer immer aus
der nahen Stadt Siemiatycze auf ebendiesen Hügel gepilgert war. So jedenfalls
will es die Legende. Einem Mann sei damals im Traum gesagt worden, er solle ein
Kreuz schultern und zu dem nahen Hügel hochsteigen. Bereits im
18. Jahrhundert wurde die Anhöhe, die auch heute noch tief in den Wäldern
liegt, zu einem wichtigen Pilgerort. Über 7000 Kreuze sind seitdem zum Lobe
Gottes und in der Hoffnung auf Erlösung von eigenem Leid auf den Hügel getragen
worden. Sie stehen rund um eine orthodoxe Holzkirche, die vor 13 Jahren nach
einem Brandanschlag an der Stelle des alten Sakralgebäudes von 1789 errichtet
worden ist.
«Ich musste einfach hierher kommen», sagt Dorota
Fidzukiewicz, die extra aus der englischen Grafschaft Essex nach Grabarka
gereist ist. Sie sei glücklich, dass sie es geschafft habe, sich zumindest für
einen Tag von der modernen materialistischen Welt loszusagen, erklärt die
Exil-Polin. Sie hat hier ihre jüngere Schwester getroffen, die bereits zum
siebten Mal mit einem Holzkreuz auf dem Rücken 120 Kilometer zu Fuss nach Grabarka
gepilgert ist. Julia Fidzukiewicz ist bereits vor ein paar Tagen in Grabarka
eingetroffen und ist dreimal auf ihren Knien rund um die Kapelle des Heiligen
Berges gerutscht, so wie es die Tradition verlangt. «Das Kreuz symbolisiert
meine Sünden», erzählt die junge Ökonomiestudentin aus der nordostpolnischen
Stadt Bialystok. Zusammen mit rund 50 000 weiteren Gläubigen will sie die
ganze Nacht durch beten und am frühen Morgen eine der vier Liturgien besuchen.
Rund 600 000 orthodoxe Polen
Rund 600 000 Orthodoxe leben nach offiziellen
Angaben in Polen. Die Polnische Orthodoxe Kirche selbst, seit 1948 als
autokephal (mit eigenem Oberhaupt) anerkannt, spricht von rund einer Million
Gläubigen. Die meisten von ihnen wohnen entlang der Grenze zu Weissrussland und
der Ukraine. Beileibe nicht alle rechnen sich zu den beiden in Polen lebenden
nationalen Minderheiten. «Es ist halt einfacher, nur orthodox zu sein»,
kommentiert die Weissrussin Kasia Sulima aus Bielsk Podlaski. Doch gerade die
Zugehörigkeit zur weissrussischen Minderheit wird in Grabarka von vielen jungen
Pilgern und Pilgerinnen offen zur Schau gestellt. Für sie gehört es genauso zum
guten Ton, im Juli nach Haradok (polnisch: Grodek) zum weissrussischen
Rockfestival zu gehen wie im August auf eine Pilgerfahrt nach Grabarka.
Dies sei die wichtigste orthodoxe Kultstätte in Polen,
erklärt der Lubliner Erzbischof Abel im Gespräch. Wer nach Grabarka zu Fuss
pilgere, dessen Gebet sei besonders stark, sagt der orthodoxe Gottesmann,
dessen Leibesfülle erahnen lässt, dass er selbst schon seit geraumer Zeit
keinen längeren Fussmarsch absolviert haben kann. Umso geschwinder tragen
orthodoxe Klosterfrauen neue Kerzen und Zettel zu den Tischen, an denen man
gegen eine kleine Geldspende Namen auf Listen schreiben lassen kann, die in der
Hauptmesse am Abend von den aus dem ganzen Land angereisten Geistlichen
heruntergelesen werden.
Das einzige polnisch-orthodoxe Frauenkloster wurde in den
fünfziger Jahren auf dem Hügel errichtet. In dem neu erbauten Gästehaus
logieren die männlichen Würdenträger, in der alten Klosterkapelle haben ältere
Pilgerinnen ihr Nachtlager errichtet. Die Jugendlichen, die den Hauptharst der
einige tausend Wanderpilger ausmachen, zelten rund um das Klostergelände. Dass
am Fusse des «Heiligen Berges» auch zahlreiche Händler, die von Plastic-Ikonen
bis zur Zuckerwatte alles Mögliche verkaufen, ihr Lager aufgeschlagen haben,
stört auch Kasia Sulima. «Aber wenigstens handelt es sich dabei nicht um eine
orthodoxe Organisation», sagt die junge Frau. In Czestochowa, dem grössten
Pilgerort der Katholiken, wird der Souvenirmarkt nämlich von einer katholischen
Stiftung kontrolliert.
Dieser Text ist
im August 2003 in der NZZ am Sonntag erschienen.
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