Polens legendärer Arbeiterführer
und Ex-Präsident Lech Walesa befürwortet der historischen Wahrheit
und Gerechtigkeit zuliebe auch eine späte gerichtliche Abrechnung mit General
Jaruzelski. Im Umgang mit Russland, das - wie die Kaukasus-Krise zeigt - wieder
vom alten sowjetischen Imperium träumt, fordert Walesa mehr europäische
Solidarität.
Fot. M. Graczyk
Interview: Paul Flückiger, Danzig (2008)
Herr Walesa, gerade hat
General Jaruzelskis Prozess wegen der Verhängung des Kriegsrechts 1981
begonnen. Glauben Sie Jaruzelski, wenn er sagt, er habe dabei als polnischer
Patriot gehandelt und sei mit der Ausrufung des Kriegsrechts einer drohenden
sowjetischen Invasion zuvorgekommen?
Lech Walesa: Als
Politiker genügt mir die Tatsache, dass ich Jaruzelski und den Kommunismus
besiegt habe. Den Rest überlasse ich den dazu berufenen Organen unseres heute
demokratischen Staates. Fachleute müssen sich mit der Frage beschäftigen, ob er
ein Patriot war oder nicht, als er das Kriegsrecht ausrief. Mir genügt hier
mein Sieg; Sieger und Verlierer sollen sich danach die Hand reichen und den
Rest den Staatsanwälten und Gerichten überlassen.
Aber Sie haben doch sicher Ihre
eigene Meinung dazu, die Sie als heutiger polnischer Bürger und einstiger
Widersacher Jaruzelskis äussern können?
Walesa: Ich weiss zu wenig,
um über Jaruzelski zu richten. Woher soll ich auch wissen, unter welchen
Bedingungen er im Dezember 1981 diesen Entscheid fällte. Vielleicht hatte er
eine Bombe im Zahn versteckt und konnte deshalb seinen Mund nicht aufmachen€
Lachen Sie nicht! Unter den Sowjets war alles möglich. Deshalb muss man alles
genau erforschen, bevor man ihn richten kann. Ich hätte an seiner Stelle anders
gehandelt, aber ich war eben nicht an seiner Stelle.
Ist es denn richtig, diesen
Prozess heute noch, 19 Jahre nach der Wende, zu führen? Oder sollte man diesen
alten Mann nicht einfach in Ruhe lassen?
Walesa: Für mich ist die
Verhängung des Kriegsrechts das grösste Verbrechen gegen die polnische Nation. Denn
damit wurden Tausende in die Emigration getrieben, wir wurden interniert, unser
Werk wurde zerstört und mit ihm auch unsere Einheit. Man hat sich damit gegen
ganz Polen vergangen. Und dabei hätte sich Jaruzelski mit mir einigen können,
und wir hätten die Russen gemeinsam in die Knie gezwungen. Zusammen hätten wir
damals erreichen können, was der anti-kommunistischen Opposition später alleine
gelungen ist.
Sie sprechen hier von Russen und
meinen die Sowjets?
Walesa: Es geht mir nur um
die Bedingungen, unter denen es damals zum Verbrechen gegen die polnische
Nation gekommen ist. Deshalb müssen das Fachleute untersuchen, zumal auch
keiner in Polen neben Jaruzelski ähnlich gehandelt hat. Dabei soll man aber
alles genau untersuchen, damit das Urteil gerecht und somit eine Warnung für
die Zukunft ist. Viele Polen haben damals einen hohen Preis bezahlt, die
Rechnung muss deshalb nun Jaruzelski präsentiert werden.
Wären Sie bereit, erneut als
Zeuge in einem Jaruzelski-Prozess aufzutreten? Sie haben dies ja bereits in
dessen zweitem seit sechs Jahren dauerndem Prozess wegen des Schiessbefehls bei
den Danziger Arbeiterunruhen 1970 getan - aus humanitären Gründen, wenn wir Sie
richtig verstehen.
Walesa: Nein, nicht aus
humanitären Gründen, sondern um der Wahrheit willen! Natürlich hätte der
General damals nicht Innenminister zu sein brauchen, natürlich hätte er
zurücktreten können. Aber da er nun einmal Minister sein wollte, konnte er
nicht seine eigenen Ideen verwirklichen, sondern nur die Pläne der
kommunistischen Partei, die mit den Sowjets vereinbarten Pläne. Deshalb hatte
Jaruzelski in Wirklichkeit fast nichts zu sagen. Und nur dies habe ich
ausgesagt. Das hatte nichts mit Sympathie oder Antipathie gegenüber Jaruzelski
zu tun. Sondern damit, dass ich die ganze Wahrheit liebe und nur dies für mich
zählt.
Ein etwas anders gelagertes
Problem der Wahrheit stellt sich aktuell auch im Kaukasus, wo EU-Politiker seit
Wochen versuchen, Moskau zu einem Rückzug aus Georgien zu bewegen. Sie haben ja
viel Erfahrung bei Verhandlungen mit Russland. Geht die EU hier zu naiv vor?
Walesa: Während der
Georgien-Krise haben zuerst einmal alle verloren: Russland hat gezeigt, dass es
keine Lehren gezogen hat, sondern auf alte, sowjetische Art und Weise Probleme
lösen will. Es hat damit die ganze
Welt gegen sich aufgebracht. Auch die EU hat verloren, denn sie hat entblösst,
dass sie schlecht organisiert ist und Sonderfraktionen duldet. Und die USA
haben ihre Impotenz gezeigt und offenbart, dass sie eigentlich nichts machen
können.
Die EU muss also ihre Ostpolitik nun neu ausrichten?
Walesa: Die EU muss effektiv und effizient sein. Sie muss nun ihre
Lehren aus dem Georgien-Debakel ziehen und lenkbar werden. Wir müssen Bereiche
ausmachen, bei denen wir alle einer Meinung sind, statt so weiterzufahren wie
bisher.
Wie sollte die EU künftig mit Russland sprechen? Im Moment beobachten wir
eine ganze Palette von Einstellungen angefangen vom offenen Verständnis eines
Ber lusconi, den Mittelweg Sarkozys bis zum harten polnischen Präsidenten
Kaczynski.
Walesa: Wir müssen Europa zuerst einmal im Hinblick auf die
Herausforderung der Globalisierung vereinigen. Dies allerdings lässt sich nicht
erreichen ohne gemeinsame Masse, Regeln und Werte. Langsam, Schritt für
Schritt bewegen wir uns auf diese Vereinheitlichung zu. Im Moment verhalten wir
uns noch ineffektiv und schlecht, wie Ihre Politikerliste zeigt. Heute noch ist
die Welt geteilt. Aber wenn wir gewinnen wollen, wenn wir später nicht Probleme
auch mit China bekommen wollen, oder mit Indien, dann muss Europa heute
solidarisch gegenüber Russland auftreten. Vielleicht wird sich die europäische
Solidarität, besonders im Falle Chinas, als zu schwach erweisen.
Dann müssen wir sie um die USA ergänzen; und zwar nicht gegen Russland und
China, sondern um ihnen und uns selbst dabei zu helfen, dieselben Masse und
Werte zu finden, damit wir alle gut zusammenarbeiten können. Andernfalls drohen
uns neue Konflikte.
Sie haben seinerzeit Anfang der Neunzigerjahre im Gespräch mit Jelzin den
Abzug der Roten Armee und den späteren polnischen Nato-Beitritt erwirkt. Wie
müsste man heute in einer Zeit der neoimperialistischen russischen Politik und
der hohen Gas- und Ölpreise mit Putin und Medwedew verhandeln?
Walesa: Es geht nicht um Jelzin oder Putin und auch nicht um den
Ölpreis. Wir müssen auf gleicher Stufe stehen. Europa kann dies erreichen, wenn
es mit einer gemeinsamen Stimme mit Russland spricht. Und wenn die EU dazu zu
schwach ist, dann soll sie die Lehren aus der polnischen Solidarnosc-Bewegung
ziehen, sich wie wir vergrössern und sich eben um die Hilfe der USA bemühen. Dann
können wir Russland als gleiche Partner gegenübertreten. Wenn aber Georgien
alleine mit Russland spricht, dann darf es nur zuhören, denn Russland hat eine
Überlegenheitsmanie.
Der georgische Präsident Michail Saakaschwili träumt auch davon, sein Land,
so wie Sie damals, aus dem Osten in den Westen zu führen?
Walesa: Saakaschwili ist ein
verantwortungsloser Politiker. Wohl verstehe ich sein Interesse, aber als
Präsident muss man vorausschauen können, man darf nicht einfach so verlieren. Er
aber hat verloren und damit die ganze Welt in eine eigenartige und schwierige
Situation hineingezogen. Ich weiss, dass er im Recht und dass Russland schlecht
ist. Dennoch hätte er nicht ohne Vorkehrungen so ein Ding drehen dürfen. Er ist
den russischen Provokationen auf den Leim gegangen. Aber so einen erfahrenen
Politiker dürfte das nicht passieren. Deswegen mache ich ihm grosse Vorwürfe.
Haben wir erneut einen Punkt
erreicht, an dem man Angst vor Moskau haben muss?
Walesa: Nein. Man konnte
sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor Russland fürchten - in der Zeit der
Blöcke, als sich die Interessen vor allem um Land drehten, und die Menschen
wenig brauchten. Das 21. Jahrhundert aber hat die Massen in eine Welt geführt,
in der Geld vor allem für intellektuelle Leistungen ausgegeben wird.
Wir sind Käufer geworden; und
Käufer kann niemand einfach ausradieren, auch Russland nicht. Denn dann kauft niemand
mehr ihre Waren. Diese neue Epoche der Globalisierung verlangt neue
Konfliktlösungen. Europa muss nun Moskau beweisen, dass sich auch für Russland
ein unzeitgemässes Handeln nicht lohnen würde. Und da Russland nur auf die
Starken hört, brauchen wir eine breit abgestützte Solidarität.
Russland aber setzt seine
Energieressourcen auch bei seinen Käufern immer wieder als Waffe ein. Und wir
in Europa sind alle von den russischen Gas- und Öllieferungen abhängig.
Walesa: Natürlich müssen wir
daran arbeiten, energetisch unabhängig zu werden und die Wissenschafter dazu
bringen, möglichst schnell Alternativen zu finden. Denn die heutige Situation
ist sehr unangenehm und bringt den Russen keine Gesprächskultur bei. Jemand,
der so grosse Energieressourcen besitzt, wird uns immer erpressen. Sobald es
andere Energiequellen gibt, müssen wir deshalb gemeinsam drohen, anderswo
einzukaufen. Schon ein halbjähriger Einkaufsstop genügt. Dann sehen wir, wie sich
Moskau verhält.
Dieses Interview ist 2008 in der NZZaS erschienen.
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