Schloss Niedzica - exotische Spuren im
polnisch-slowakischen Grenzgebiet
Von Paul Flückiger, Niedzica
«Achtung Gespenst!», warnt ein dreieckiges Verkehrsschild beim Aufstieg zum
Schloss Niedzica. Die Schulklassen, die das Schloss vor allem besuchen, machen
davor Erinnerungsfotos. Das Gespenst sei der Geist der Inkaprinzessin Umina,
die hier Ende des 18. Jahrhunderts von spanischen Schergen erdolcht worden
sei, wird jungen und erwachsenen Besuchern von den Schlossführern erzählt. Er
bewache einen geheimnisvollen, hier vergrabenen Inkaschatz.
Fünfmal die Herrschaft
gewechselt
Der Besucher befindet sich in einem der hintersten Täler
der polnischen Gegend Spisz (deutsch: Zips) im östlichen Tatra-Gebirge; es ist
vorwiegend von Angehörigen der slowakischen Minderheit bewohnt. Hierher
verfahren sich um diese Zeit keine Touristen; dafür liegt Polens
Wintersportdestination Zakopane zu verlockend nah hinter den Hügeln. Zwei
Kilometer ostwärts vom Dörfchen Niedzica (slowakisch: Nedec), immer dem Fluss
Dunajec entlang, liegt die heutige slowakische Grenze, ebenso weit in
westlicher Richtung erhebt sich stolz das Schloss Niedzica. Anfang des
14. Jahrhunderts wurde es am damaligen Nordrand Ungarns als Wehrburg gegen
die Polen errichtet. Der polnische König Kazimierz der Grosse reagierte um 1350
auf der polnischen Seite, in Czorsztyn, mit dem Bau einer eigenen Grenzfeste.
Heute liegen beide Wehranlagen in Polen, das zwischen ihnen liegende
Dunajec-Tal wurde an dieser Stelle Anfang der neunziger Jahre in einen Stausee
verwandelt.
Der Bau war damals sehr umstritten und ist es unter der
lokalen Bevölkerung noch heute. Ihre neuen Weiden seien schlechter als jene
direkt am Fluss, klagt eine alte Frau, die unweit des Schlosses am Seeufer eine
Kuh weidet. Aber die Herren setzten ihren Willen eben immer durch. Die Frau
weiss, wovon sie spricht. Fünfmal hat sie den Pass gewechselt, ohne ihr Dorf
ein einziges Mal verlassen zu haben. Als sie vor mehr als 80 Jahren in Niedzica
geboren wurde, gehörte das Gebiet noch zu Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten
Weltkrieg zur Tschechoslowakei geschlagen, wurde es 1920 von Polen annektiert.
Die Dörfer rund um das Schloss blieben allerdings bis 1945 im Privatbesitz der
letzten Herren von Niedzica, eines ungarischen Adelsgeschlechts. Bis 1931
herrschte hier die Leibeigenschaft. Die Frau berichtet vom ersten eigenen
Acker, der brutalen Besetzung der Deutschen und den schrecklichen Taten der
Roten Armee, die das Schloss 1945 plünderte. «Ach, man erzählt vieles», winkt
sie, angesprochen auf den Inkaschatz, ab.
Ein ungarischer
Haudegen
Ein Inkaschatz in Polen! Die Geschichte hört sich zu
phantastisch an, um wahr zu sein. Und doch, der älteste Schlossführer, Franek
Szydlakow, dessen Vater noch als Tischler beim Burgherrn beschäftigt war,
behauptet felsenfest, er sei 1946 dabei gewesen, als unter einer Treppe ein
Zinnrohr gefunden worden sei, das neben Gold ein Quipa enthalten habe. Den Weg
zur Entschlüsselung des Quipa, einer Knotenschnur, die den Inkas als Schrift
diente, säumen mehrere Todesfälle und Verschwundene. Bekannt ist sein Inhalt
bis heute nicht, ja selbst die Spur des Quipa scheint sich verloren zu haben.
Am Anfang der Geschichte um den geheimnisvollen
Inkaschatz von Niedzica steht ein ungarischer Haudegen, Sebastian Berzewiczy.
Der junge Adelige, ein entfernter Verwandter der damaligen Burgherren von
Niedzica, war 1760, angelockt vom sagenumwobenen Goldschatz der Inka, nach Peru
gereist. Gold fand er keines, doch verliebte er sich in eine direkte Nachfahrin
des von Pizarro unterjochten Atahualpa. Bald nach der Heirat starb die
Inkaprinzessin bei der Geburt der ersten Tochter. Berzewiczy aber blieb in
Peru, nahm auf der Seite der Inka an einem der letzten grossen Aufstände gegen
die Spanier teil und verheiratete seine Tochter Umina mit dem Anführer des
Widerstands, einem Ururenkel des letzten Inkaherrschers Tupac Amaru.
Adoptiert und
vergessen
Um das Herrschergeschlecht zu retten, so will es scheinen,
reiste er mit seiner Tochter, deren Mann Tupac Amaru II und einem Inkahofstaat
zurück nach Europa. Dort suchte er zuerst Asyl in Venedig, zog sich dann aber,
nachdem Tupac Amaru II bei einem Attentat ums Leben gekommen war, in die
unwegsame Zips auf das Schloss Niedzica zurück. Im Gepäck hatte er, glaubt man
polnischen Historikern, einen Teil jenes geheimnisvollen Inkaschatzes, den man
heute im Titicacasee vermutet. 1797 wurde der «ungarische» Inkahofstaat in
Niedzica von Schergen des spanischen Königs aufgespürt, und Umina wurde
erdolcht. Um seinen Enkel, den nunmehr letzten Inkaprinzen, ein für allemal
untertauchen zu lassen, soll ihn Sebastian Berzewiczy als Adoptivsohn an einen
Verwandten weitergegeben haben. Den Schatz habe Berzewiczy, so heisst es, in
der Gegend vergraben und die Lage des Verstecks in einem Quipa festgehalten.
Anton Benes, wie der letzte direkte Nachkomme Tupac
Amarus nun hiess, soll, so der Warschauer Historiker Aleksander Rowinski,
unerkannt in der Nähe von Brünn (tschechisch: Brno) gestorben sein und sich
zeitlebens nie für den Schatz interessiert haben. Anders sein Urenkel, ein
gewisser Andrzej Benesz: Der spätere Vizepräsident des Parlaments der
Volksrepublik Polen will in den dreissiger Jahren erstmals von dem geheimnisvollen
Schatz erfahren haben. 1946 fand er in Krakau angeblich die Adoptionsurkunde
seines Urgrossvaters, in der das Versteck des Quipa beschrieben war. Noch im
selben Jahr will er die in einem Zinnrohr versteckte Inka-Schnurschrift
gefunden haben. Zwei Expeditionen entsandte der hochrangige polnische Politiker
in den siebziger Jahren nach Peru, um die geheimnisvolle Schrift zu
entschlüsseln. Doch beide Male verschwanden die Expeditionsteilnehmer spurlos.
Ende Februar 1976 kam Andrzej Benesz, angeblich unterwegs zu einem Treffen mit
zwei Quipa-kundigen Ausländern, auf dem Weg von Warschau nach Danzig bei einem
Autounfall ums Leben.
Mit 300 Tonnen Beton
versiegelt
Sein Sohn, ein Anwalt in Danzig, verweigert jede Aussage
zu dem Thema. Rowinski, der die Geschichte um den geheimnisvollen Inkaschatz in
Niedzica seit über 30 Jahren zu ergründen versucht, glaubt, das Versteck in
einer Burgruine rund 70 Kilometer nördlich von Niedzica, ebenfalls am Fluss
Dunajec gelegen, lokalisiert zu haben. Deren Besitzer, ein Krakauer
Geschäftsmann, soll den Eingang zu geheimen unterirdischen Gängen angeblich mit
300 Tonnen Beton versiegeln lassen haben. Er wolle den Schatz nicht heben, denn
er benötige ihn weder zu seinem Glück, noch sei er auf das Gold angewiesen,
wird der Besitzer zitiert.
Im Schloss Niedzica, wo ein Teil der Kammern inzwischen
in stilvolle Gästezimmer umgebaut worden ist, kann der Besucher derweil ruhige
Ferientage in der Abgeschiedenheit des heute polnisch-slowakischen Grenzlandes
verbringen - ungehindert vom Getöse der Geschichte und von Gespenstern. Einzig
lärmende Schulklassen stören manchmal morgens kurz die Stille. Sie verstummen
jeweils, wenn ihnen die haarsträubende Geschichte des sagenumwobenen
Inkaschatzes erzählt wird.
Diese Reportage ist 2004 in der NZZ erschienen.
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