Am 26. April 1986 explodierte der AKW-Reaktor in Block 4. In den vor 30 Jahren evakuierten Dörfern rund um
Tschernobyl leben die letzten Rücksiedler – ein Augenschein.
Julia Belanok, 2006, Rücksiedlerin in Rudakow - Fot. Paul Flückiger
Von Paul Flückiger, Lenin (Weissrussland)
Kostas Sedledzkis zieht an seiner Zigarette und zeigt nach Süden. «Wenn das
Wetter gut ist, sieht man von hier den Unglücksreaktor von Tschernobyl»,
behauptet er. Der Rentner führt die Besucher durch seine radioaktive
Wahlheimat. Der Litauer steht dort, wo einst das Zentrum des Dorfes Lenin war.
Ein Kreuz markiert den Ort rund 35 Kilometer nördlich des 1986 explodierten AKW
Tschernobyl. Die Kolchose, der Laden, alle Häuser und selbst der lokal berühmte
Kulturklub von Lenin sind heute abgetragen.
Auf der Landkarte ist Lenin als «unbewohnt» markiert, so wie Hunderte im
Zuge der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 verstrahlte, vollständig
evakuierte Dörfer in Weissrussland. Auf dem Weg zum wenige Kilometer weiter vom
Havariereaktor entfernten Nachbarort Hubarewitschi sind die Narben der teils
vergrabenen, teils abtransportierten Häuser noch sichtbar; Baumstümpfe,
verbranntes Unkraut und umgepflügte Erde sind zurückgeblieben.
Die Täuschung
Alles soll schön und ordentlich aussehen im Reich des weissrussischen
Autokraten Aleksander Lukaschenko. Und so werden seit drei Jahren im ganzen
Land alle alten, unbewohnten Häuser abgetragen. Wenige Meter entfernt spriesst
wieder junges Getreide, wartet neues, staatlichen Grossfarmen einverleibtes
Weideland auf Kühe. Dabei ist die ganze Gegend immer noch radioaktiv verseucht.
Kostas Sedledzkis kümmert das nicht weiter. Wie die meisten Bewohner des
Tschernobyl-Zonenrandes verniedlicht er die Gefahren der radioaktiven
Strahlung. In seinem Garten pflanze er Kartoffeln, Möhren, Lauch und Randen an.
Das alles gedeihe blendend und schmecke gut, sagt Sedledzkis. Er erweist sich
damit als guter Bewohner von Lukaschenkos Weissrussland. Seit über zehn Jahren
bemüht sich nämlich die Regierung in Minsk, die Reaktorkatastrophe vergessen zu
machen. Weissrussische Agronomen wollen Methoden entwickelt haben, die
schädlichen Radionukleide in der Nahrungskette durch ein Umsatteln von Milch-
auf Fleischproduktion und die Wahl bestimmter Nutzpflanzen zu minimieren.
«Normalisierung» heisst diese Politik.
Während das einstige sozialistische Musterdorf Lenin heute in der rund 30 Kilometer breiten
Todeszone rund um Tschernobyl liegt und deshalb nicht mehr bewohnt werden darf,
werden die paar wenigen Einwohner in drei Nachbardörfern Lenins geduldet. Das
Leben wird ihnen indes nicht einfach gemacht. Noch gibt es zwar Elektrizität,
aber keine Gasversorgung, kein fliessendes Wasser, keine Kanalisation und keine
öffentlichen Verkehrsmittel. Hubarewitschi, in das uns Sedledzkis als erstes
führt, sieht mit seinen sechs bunten Holzhäusern aus wie ein idyllisches
Bauerndörfchen.
Der blutende Baum
Maria Daschuk bestellt dort ihren eigenen Gemüsegarten. Sie hat sich in der
nahen Bezirkshauptstadt Choiniki Zwiebelsetzlinge besorgen lassen, die sie nun
setzen will. «Die Radioaktivität ist mir wohl in die Beine gefahren», klagt die
85-jährige und setzt sich auf eine Bank in den Schatten. Alle hier hätten Hüft-
und Kniebeschwerden, sonst spüre niemand die laut den Gelehrten
gesundheitsgefährdende Strahlung, erzählt Daschuk, die sich zur Selbstversorgung
über ein Dutzend Hühner hält. Zwei Männer und drei Frauen leben noch in dem
Ort, der vor 1986 rund 500 Einwohner zählte.
Zwölf Jahre ist es her, seit Daschuk ihr Geburtshaus am Rande von Lenin
verlassen hat und ins Dorfzentrum von Hubarewitschi umgezogen ist. Immer
wieder hätten Marodeure das einsame Haus heimgesucht, auf die Dauer sei es
einfach zu gefährlich geworden, erzählt die einstige Landarbeiterin der
Getreidekolchose. Alle ihre Nachbarn hatten sich sofort nach der
Reaktorkatastrophe evakuieren lassen. Als auch die letzten leer stehenden
Häuser abgetragen wurden, sei ein Wunder geschehen. Ein abgesägter Baumast habe
vor drei Jahren plötzlich zu bluten begonnen, am Stumpf sei das Gesicht der
Muttergottes erschienen. «Meine Nachbarin hat es als erstes gesehen, will es
als erste gesehen haben», Maria Daschuk mit einer gehörigen Portion Skepsis.
Sedledzkis ist sich da schon etwas sicherer. «Bereits ziehen im Sommer
Pilger aus Minsk zu dem Wunderbaum», sagt er stolz. Auch sie bekommen eine
«normalisierte» Landschaft vorgesetzt. Selbst die Wachmannschaft der
Tschernobylzone hat sich hinter das nahe Wäldchen zurückgezogen. Bis vor kurzem
stand die Polizei noch direkt am Dorfausgang in Richtung Lenin, doch von Jahr
zu Jahr verkleinert sich die streng bewachte Zone.
Sedledzkis selbst wohnt ein Dorf weiter im Osten, in Wysokoje. Hier halten
sich zwei Schwestern zusammen ein Schwein. Beide sind bereits weit über
Neunzig. Ihr hohes Alter wird in den Gesprächen immer wieder als Beweis für die
Unschädlichkeit der Radioaktivität angeführt. «Wer weggezogen ist, ist dagegen
gestorben oder hat sich erhängt», erzählt Sedledzkis, der den altersschwachen
Schwestern bei verschiedenen Alltagsarbeiten hilft.
Die gute Seele
Der mit 63 Jahren für hiesige Verhältnisse noch junge Sedledzkis ist so
etwas wie die gute Seele von Wysokoje. Mit seinen 15 Bewohnern ist das einstige
400-Seelen-Dorf heute die grösste Tschernobyl-Siedlung am weissrussischen
30-Kilometer-Todeszonenrand. Der ehemalige Matrose der Sowjetischen Kriegsmarine
will vor 21 Jahren aus Sankt Petersburg hierhin gezogen sein. Der joviale
Rentner erzählt nach einem Glas süssem Weisswein von einer gescheiterten Ehe,
einer verlorenen Wohnung und der Verweigerung eines litauischen Reisepasses.
Als erste sei seine Schwester in diese Gegend gezogen, die Familie habe
weissrussische Wurzeln, begründet er.
Nur zweimal in der Woche kommt für 15 Minuten ein Autobusladen in den drei
Dörfern vorbei. Wer keine einst ins nahe Umland evakuierten Verwandten hat, ist
deshalb auf den Garten angewiesen. Grigori Dehun hat sich wohl am besten von
allen auf die Selbstversorgung spezialisiert. Neben einem grossen
Kartoffelacker baut der einstige Agrarfachschuldirektor abseits des
Dorfzentrums gar Futterweizen für seine vier Schweine an. Auch zwei
Bienenvölker hält sich Dehun. «Mein Honig und meine Äpfel werden regelmässig
geprüft und sind seit Jahren völlig gesund», rühmt der Rücksiedler. Mit dem
Rüden Bim sitzt der stattliche 75-jährige nach getaner Arbeit vor seinem Haus
und bewacht seine 25 Hühner, damit kein Falke mehr zuschlägt, wie erst letzte
Woche. «Die Welt da draussen ist verrückt, ich bin überzeugt, dass die Städter
bald aufgezehrt vom Stress wieder zu uns hierher aufs Land hinaus ziehen»,
philosophiert Dehun.
26. April 1986 - die Katastrophe und die Folgen
· In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen AKW
Tschernobyl zur bisher grössten zivilen Atomkatastrophe. Bei einem
Sicherheitsexperiment war es im vierten Reaktorblock zur Explosion gekommen.
Dabei gelangten hoch radioaktive langlebige Isotope wie Strontium-90 und
Cäsium-137 in
die Atmosphäre.
· Die Sowjetbehörden liessen die Bevölkerung tagelang im Ungewissen über
das Ausmass der Katastrophe. Von Tschernobyl selbst und der nahen Stadt Pripjat
wurden die Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag zwangsweise evakuiert. In
der Folge wurden in einem Umkreis von rund 200 Kilometern mindestens 200000
Sowjetbürger evakuiert.
· Die Zahl der Todesopfer ist umstritten. Direkt an der Strahlendosis
gestorben sind offiziell 29 Personen. Die Zahl der indirekten Strahlenopfer
reicht von 4000 (gemäss WHO) bis zu 200000 Toten gemäss weissrussischen
Hochrechnungen.
· Sogenannte Liquidatoren gossen in dem havarierten AKW in 206 Tagen 300000
Tonnen Stahlbeton auf den vierten Reaktorblock, um das weitere Austreten der
Radioaktivität zu unterbinden.
Inzwischen ist dieser erste Sarkophag leck. Unter der Führung der
Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London wird seit 2012
eine Metallhülle errichtet, die voraussichtlich Ende 2016 über den alten
Sarkophag geschoben werden soll.(flü)
Zuerst erschienen in der Aargauer Zeitung (26.4.2016)
ReisenOnline
Zuerst erschienen in der Aargauer Zeitung (26.4.2016)
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