Portrait eines der letzten noch lebenden Kämpfers des Warschauer Ghetto-Aufstandes.
Paul Flückiger,
Warschau
„Mein Aussehen hat
mir das Leben gerettet“, sagt Symcha Ratajzer-Rotem, von seinen Freunden kurz
und auf gut polnisch „Kazik“ genannt. Der 89-jährige ist Ehrengast der
Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes von heute
Freitag. Der israelische Staatspräsident Simon Peres musste seine Teilnahme
kurzfristig absagen, doch „Kazik Ratajzer“ ist laut einer Sprecherin des
Warschauer Rathauses trotz seines hohen Alters bereits angereist. Aufgewachsen
im proletarisch geprägten Warschauer Stadtteil Czerniakow konnte Ratajzer dank
seines nicht-jüdischen Aussehens und typischen Warschauer Gossendialekts
während der deutschen Besatzungszeit auf der so genannten „arischen“ Seite
ausserhalb des Ghettos nicht nur untertauschen, sondern sich in der Stadt
ausgerüstet mit gefälschten Papieren ziemlich frei bewegen.
Bereits 1941
schloss er sich dem jüdischen bewaffneten Untergrund an, ein Jahr später zog er
in eine Art Kibbutz in Czerniakow. Zum Jahreswechsel 1942/43 ging Ratajzer
freiwillig ins schwer bewachte jüdische Ghetto – um zu kämpfen. Am 18. Januar
1943 griff der Jüdische Kampfbund (ZOB) zum ersten Mal deutsche Einheiten im
Ghetto an. Die SS plant einen Grosstransport ins Vernichtungslager Treblinka,
doch erstmals stellen sich jüdische Kämpfer entgegen – darunter Kazik Ratajzer.
Der Transport wird ein paar Tage aufgeschoben, Kaziks Einheit unter der Führung
von Henoch Gutman schult sich im Geheimen im Strassenkampf und versucht, auf
der „arischen“ Seite, wo die Polen wohnen, sich aber auch Tausende von
polnischen Juden – darunter auch Verbindungsleute der ZOB - versteckt haben,
weitere Waffen zu beschaffen. Auch verliebt er sich in die ebenfalls Blutjunge
Mitkämpferin Debora Baran, die er jedoch bald nach Aufstandsbeginn am 19. April
aus den Augen verliert. Denn Kazik wird bereits am zehnten Tag zurück auf die
„arische“ Seite geschickt. Seine Mission: Es soll einen sicheren Fluchtweg für
die ZOB-Kämpfer mitorganisieren.
„Ich habe nie
behauptet, wir hätten diesen Aufstand für die Geschichte, unser Volk oder
unsere Ehre gemacht“, sagt Ratajzer in einer kürzlich in Polen veröffentlichten
Biographie (Witold Beres und Krzysztof Burnetko: Bohater z Cienia [deutsch:
Held im Schatten], Warszawa 2012). „Ich wollte nur nicht in der Gaskammer
ersticken; also besser ein Tod im Kampf – das geht schneller“, meint
Ratajzer. Als „Held im Schatten“ haben
ihn seine polnischen Biographen bezeichnet. In der Tat hat es Ratajzer nie zu
dem Bekanntheitsgrad von Mordechai Anielewicz, dem Anführer des Aufstands, oder
eines Marek Edemann gebracht. Doch ohne ihn wäre die Flucht von 30-50
Ghettokämpfern nicht gelungen. Auf der „arischen“ Seite angekommen, trifft er
den ZOB-Verbindungsmann in tiefer Depression und praktisch ohne Kontakte zum
polnischen bewaffneten Untergrund – sowohl der rechten Heimatarmee (AK) wie der
linken Volksarmee (AL). Mithilfe von polnischen Kanal-Schmugglern, die er davon
überzeugt, es gälte eine im Ghetto bei einer Aktion von den Deutschen
überraschte Einheit der AK zu retten, schafft er in einer dramatischen
Verzweiflungsaktion Dutzende von ausgemergelten und völlig erschöpften
jüdischen Kämpfern – darunter Marek Edelmann – aus dem brennenden Ghetto. Auf
einem Lastwagen werden sie in die Wälder ausserhalb von Warschau geschafft.
Doch die Zeit
drängt und ein paar Aufständische bleiben in den Abwasserkanälen zurück. Kazik
Ratajzer macht sich deswegen sein ganzes Leben Vorwürfe. „Das ist alles meine
Verantwortung“, sagte er dieser Tage gegenüber der polnischen
Nachrichtenagentur PAP. Dabei gelingt es ihm – wieder dank seines polnischen
Aussehens und Akzents – bald eine sichere Wohnung in der besetzten Hauptstadt
für Edelmann und den ZOB-Stab zu finden und Kontakte zu Dutzenden Kämpfern des
jüdischen Untergrundes in ganz Polen zu unterhalten – darunter auch Partisanen
bei Krakau und Tschenstochau. Im August 1944 nimmt Kazik Ratajzer zusammen mit
etwa zwei Dutzend ZOB-Kämpfern aus dem ehemaligen Ghetto am Warschauer Aufstand
der polnischen Untergrundarmeen teil. Nach Kriegsende hegt er lange Rachepläne
gegen die Deutschen und insbesondere SS-Mitglieder, organisiert dann aber die
Emigration polnischer Holocaust-Überlebender nach Palästina, wohin er selbst im
Herbst 1946 auswandert.
Neben Ratajzer
werden heute Freitag der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski sowie
der deutsche Europa-Parlamentspräsident Martin Schulz sowie Vertreter aus
Israel und rund 30 europäische Bürgermeister an den Gedenkfeierlichkeiten zum
70. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes teilnehmen. Ebenfalls am Freitag
öffnet das Museum der Geschichte der Polnischen Juden erstmals eine Tore. Ein
reichhaltiges Kulturprogramm bis zum 16. Mai, dem Tag der Niederschlagung des
Ghettoaufstands, soll die Polen auf die Bedeutung des Aufstandes aufmerksam zu
machen. Umfragen zeigen, dass drei Viertel der Polen denken, der Ghettoaufstand
sei nur für dir Juden ein wichtiges Ereignis.
Dieser Text ist im April 2013 in Der Presse erschienen.
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