* Kurz vor Weihnachten ist Jan Góra, ein berühmter polnischer Dominikaner, gestorben. Hier nochmals das Porträt eines Menschen, der die Jugendlichen ansprechen konnte. Sie kamen in Scharen und nannten ihn Vater Jan. „Man muss die Leute dort abholen, wo sie stehen“ – klang sein Motto.
Photo: Dominikanie.pl
Von Paul Flückiger (2000)
„Ich habe keine Probleme mit unserer Kirche – im Gegenteil; ich brauche sie"
Tausende haben sich beim Legnica-See versammelt. Seit Stunden stehen sie sich die Füsse in den Bauch, beten und singen. Aus ganz Polen sind die Jugendlichen hierher gepilgert, in die Natur, unweit von Gniezno (Gnesen), wo das christliche Polen mit der Taufe Mieszko I begonnen hat. Nun stehen sie vor 20 Meter hohen Metallkonstruktion in Form eines Fisches und warten – warten auf den Papst.
„Alle Nachrichten über nicht geplante Treffen, wie zum Bespiel das Jugendtreffen am Legnica-See, sind falsch“, hatte der Sekretär der polnischen Bischofskonferenz einsilbig verkünden lassen. Johannes Paul II ist zwar wieder einmal in Polen, aber für diese Jugendlichen hat er nach dem Willen der Kirche keine Zeit. Der Heilige Vater soll sich nicht unnötig aufhalten und direkt von Jelenia Góra nach Gniezno fliegen. Brummend nähert sich die Helikopterstaffel, fliegt über die Menschenmasse hinweg. Nur einer bleibt zurück, landet wenige Minuten später unter der Metallkonstruktion. „Unglaublich! Der Papst kommt auf uns zu! Er kommt direkt durch das Fisch-Tor des Dritten Jahrtausends!“, ruft Jan Góra ins Mikrophon.
„Ich habe überhaupt keine Probleme mit unserer Kirche – im Gegenteil; ich brauche sie, und ich brauche ihre Hierarchie“, sagt Jan Góra. Wir sitzen in seinem Büro im Posener Dominikaner-Konvent. Meterhoch stapeln sich Fotoalben, Liedersammlungen, Bücher. Viele davon hat er selbst geschrieben, fast so viel wie in Polen über ihn geschrieben wurde. Keiner im Dienst der Kirche ist kontrovers wie er, keiner so erfolgreich. „Macht es besser!“ wirft der 52-jährige für gewöhnlich denen entgegen, die ihn kritisieren. So geschehen jüngst in einem Interview mit der katholischen Intellektuellen-Zeitung „Tygodnik Powszechny“. „Hier ist mein Buch, da steht alles über mich und meine Projekte“, wimmelt er ab. Jan Góra ist ein Macher. Er hat keine Zeit, sich mit irgendwelchen Journalisten aufzuhalten.
Und er ist ein Selbstdarsteller. Hier kann man ihn packen. Also doch. „Sprechen wir, los!“, gebietet er.“ Jan Góra antwortet nicht auf Fragen. Er erzählt. Achzig Tausend haben sich dieses Jahr am Lednica-See unter dem Fisch-Tor versammelt, so viele wie noch nie zuvor. Sein Werk.
„Man muss die Leute dort abholen, wo sie stehen“
Begonnen hatte alles vor über 20 Jahren in Tarnobrzeg, wohin der junge Dominikanermönch als Katechet gesandt wurde. „Dort habe ich gelernt, dass die Bibel unverständlich ist, und dass ich sie zuerst übersetzen muss“, sagt Góra. Und: „Man muss die Leute dort abholen, wo sie stehen“.
Fast 20 Jahre lang stand er im oberschlesischen Prudnik unter der Fuchtel seines Vaters – ein Patriarch, wie er in einem seiner Buch festhält. Heute erinnert nichts mehr an den jungen Novizen, der gehorsam neben seinem Herrn Papa auf der Treppe steht. Jan Góra ist ein Riese in seinem Reich, seine Pranken greifen nach den Fotoalben, zeigen seine Arbeit. Zwei Jugendzentren hat er eröffnet.1986 rief er die Jugend zum ersten Mal aufs freie Feld nach Hermanice in Oberschlesien. In einem Zelt stand er den ganzen Juli zur Verfügung. Wer Sorgen hatte, wer reden wollte, wer beten wollte, konnte kommen. Heute stehen dafür Seminarräume zur Verfügung. Dazwischen landete er - „das war eine Verwechslung“ - im Organisationskomitee der VI Internationalen Jugendtage in Jasna Góra, komponierte den Kirchenhit „Abba Ojcza“ und fand schliesslich 1998 auf einer Wanderung ein sterbendes Dorf: Jamna.
Wo sich Wehrmacht und Partisanen das heftigste Gefecht in Polen geliefert hatten, wo gemordet und gestorben wurde, zerstört und nicht wieder aufgerichtet, blüht heute wieder das Leben. „Dort steht unsere Botschaft, ein Haus der Hoffung“, sagt Jan Góra über sein Lieblingskind. Abgelegen in den Beskiden, Hunderte Kilometer entfernt von seinem Jugend-Pfarramt in Poznan (Posen) betet und arbeitet er dort mit Jugendlichen aus ganz Polen zusammen.
Mittlerweile zieht Jan Góra junge Menschen aus allen Schichten an, schon kirchlich organisierte, wie auch viele Teens und Twens auf der Sinnsuche. Die meisten studieren. Für sie ist die Volontary Work Camp-Athmosphäre in Jamna eine besondere Abwechslung. Gerade wurde die Kirche fertiggestellt. Auch sie hat der Papst geweiht. Ihm zu Ehren ist auch der Seminarraum im Keller benannt. Und für ihn steht im nahegelegenen Zentrum ein Zimmer bezugsbereit. „Dieses Zimmer wartet immer auch Dich, auch wenn wir nicht da sind. Der Schlüssel liegt im Bezirksgebäude. Also: Komm doch vorbei, wenn Du mal Lust hast,“ schrieb Jan Góra an Johannes Paul II.
„<Die Ausstrahlung der Vaterschaft> wurde zum Drehbuch meines Lebens“
Ueberhaupt - der Papst. Er ist nicht nur auf jedem zweiten Foto, das von Jan Góra im Umlauf ist. Der Papst ist sein grosses Vorbild: „Karol Wojtylas Schrift <Die Ausstrahlung der Vaterschaft> wurde zum Drehbuch meines Lebens“, sagt Góra. Vom Papst habe er gelernt, ein Vater zu sein. Und dann erzählt Góra zum wohl x-ten Mal die Geschichte von jenem Mädchen, dem er als junger Jugendseelsorger in Poznan sofort das Du angeboten habe. Sie aber gab ihm einen Korb: „Kollegen habe ich in der Schule, Sie müssen für uns ein Vater sein“. Seither ist Jan Góra „Vater Jan“. Nur mit den schönen Frauen hat er es immer noch. „Wenn er etwas erreichen will, schickt er auch mal ein besonders hübsches Mädchen zu uns“, gibt ein Lokalpolitiker in der Zeitung „Głos Wielkopolski“ zu Protokoll.
„Ich bin bei euch, versucht gemeinsam zu beten“
Nichts sei für ihn unmöglich, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, und er kenne kein Mass, hört man über Jan Góra. „Ich tue mein Bestes“, sagt er von sich selbst. Und auch, dass dies ohne den Johannes Paul II nicht möglich wäre. „Ihr Westler habt Mühe das zu verstehen, ich weiss“, sagt er, „aber das Verhältnis der polnischen Jugend zum Papst ist vollkommen anders.“
Die Jugend wolle den Papst, sie liebe und brauche ihn. „Das tolle am Papst ist, dass er sich bei der Jugend nicht einschmeichelt. Er ist der Kontrapunkt zu all dem Konsum, der nun auch bei uns beginnt“, wirbt Góra. Jetzt kommt ins Element, zieht beissend vom Leder: Die Jugend leide an der „Demokratie-Krankheit“, am Zerfall von Familie und Werten, am Zerfall der Autorität. Wer ihm zuhört mag nicht glauben, dass er eine moderne polnische Kirche repräsentieren soll. „Ich setze meine Hoffnung auf Ratzinger“. Schweigen. „Ja, auf Ratzinger, denn mit ihm stellt die Kirche Anforderungen, mit ihm lässt sie sich nicht verwässern“, erklärt Jan Góra. Das Telefon klingelt. „Ich liebe euch, ich bin bei euch, versucht gemeinsam zu beten“, rät Vater Jan.
„Wir sind Slawen, baptisés par la culture de l’Ouest“
Aber hat denn die polnische Jugend nicht auch ihre Probleme mit dem päpstlichen Keuschheitsgebot vor der Ehe? Mit der Aechtung der Verhütungsmittel? Klar, sagt Jan Góra. Aber anders. Góra wechselt vom Polnischen ins Französische: „Wir sind Slawen, baptisés par la culture de l’Ouest“. Góra philosophiert. Er sieht Polen an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, zwischen Orient und Okzident. In Polen zähle der Mensch als Mensch, im Westen sei er eine Ware. <Erlaubt – nicht erlaubt> seinen die Kategorien des Westens, in Polen aber interessiere der Kern der Dinge. Dann geisselt er die Clichés der Medien. Er breitet die Arme aus, zeigt zwei Meter: „Soviel hat der Papst in seiner Enzyklika geschrieben - über den Glauben, die Hoffnung, die Würde der Frau...“. Sex komme darin kaum vor und auch das werde von den Medien noch verdreht.
„Ich liebe die Jugend, so wie sie ist. Das sind fantastische Menschen“
Hart ist er wie Stahl, dieser Jugendseelsorger aus Poznan. Und es braucht viel, ihn zu einer Antwort zu zwingen. Kein Wort über die Widerstände des polnischen Episkopats gegen sein erstes Jugendtreffen in Lednica. Nur gerade soviel gesteht er ein: Ja, sein Erfolg zeige, das es mehr solche kirchlichen Jugendinitiativen bräuchte. Viel lieber aber spricht er über Lednica 2001. „Ich lasse tausende Brote in der Form eines Buches backen“, schwärmt Góra. Das nächste Jugendtreffen in Lednica soll nach dem Willen von Vater Jan eine Fest der Bibel sein. Schon jetzt sind Jugendgruppen dabei, die Bibel abzuschreiben und ihm zuzusenden. Und wie alle Jahre vorher wird Johannes-Paul II persönlich zumindest die Einladung dazu schreiben.
Mit dem westeuropäischen Aktivismus allerdings hat er nichts am Hut: „All dieses soziale Engagement der Kirche zeugt doch nur von einem Seelen-Vakuum“. Góra wünscht sich eine Kirche die missioniert, die dem Volk klare Werte vorgibt und Forderungen stellt. Wie ein Vater. Konzessionen und Anbiederung sind ihm ein Greuel. Auch deswegen ist Jan Góra nicht auf die Welle der christlichen polnischen Rockmusik aufgesprungen. „Es ist mir egal, ob die Jugend das hören möchte; bei mir bekommen sie das nicht; ich frage sie auch nicht, ob sie das wollen. Ich suche die Popularität nicht mit allen Mitteln“. Viel lieber stimmt Vater Jan auf seiner Gitarre sein <Abba Ojcza> an und lauscht den Abertausenden Stimmen seiner Jünger und Jüngerinnen. Ihnen vertraut er: „Ich liebe die Jugend, so wie sie ist. Das sind fantastische Menschen. Sie haben keine Angst vor den Anforderungen des Papstes“.
Paul Flückiger
Korrespondent NZZ am Sonntag
Warschau
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