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Ich bin ein Einzelkind. Trotzdem habe ich ältere Brüder. Ab und zu entdecke ich ihre Spuren selbst, und manchmal werde ich an sie erinnert. Wie das letzte Mal in Kazimierz Dolny, einem mittelalterlichen Städtchen an der Weichsel. Der bei polnischen Künstlern für seine malerische Lage und das Ambiente beliebte Ort zwischen Warschau und Lublin wurde diesmal zum Hintergrund für schwierige Themen.
«Braucht das Christentum den Judaismus?» hiess einer der Vorträge, die in Kazimierz Dolny gehalten wurden. Im Kuncewiczowka-Museum haben sich vor allem Jugendliche versammelt. Sie wurden vom dortigen Priester dahin geführt. Der Ausgangspunkt für eine geplante Diskussion waren das Buch von Johannes Paul II. «Erinnerungen und Identität» sowie der Begriff «ältere Brüder im Glauben», mit dem der verstorbene Papst die Juden bezeichnete.
Diesen Ausdruck gebrauchte zum ersten Mal Mitte des 19. Jahrhunderts Andrzej Towianski, ein Mystiker und geistiger Meister vieler Exilpolen in Paris. Einer seiner treuen Schüler war Adam Mickiewicz, der grösste polnische Romantiker. Mickiewicz hatte vor, eine Legion für den Kampf gegen die russischen Besatzer zu organisieren. In seinem Programm hiess es unter anderem: «Israel, dem älteren Bruder, Achtung, Bruderschaft, Hilfe auf dem Weg zu seinem ewigen und irdischen Besten. Gleiches Recht.» Johannes Paul II., selbst ein Poet, zitierte gerne Mickiewicz. Und wir zitieren den Papst. Die Sprache beeinflusst das Bewusstsein; wenn auch nicht sofort.
Die Teenies in Kazimierz Dolny haben sich geduldig die Erklärungen von Sabbat, Tora, Talmud und Kabbala angehört. Gefasst haben sie auf die Bemerkung reagiert, sie würden in einem Städtchen wohnen, dessen Einwohner vor dem Krieg zur Hälfte Juden gewesen seien. Wie Wadowice, die Heimatstadt von Karol Wojtyla. Der künftige Papst hatte als Torhüter in der jüdischen Fussballmannschaft gespielt, er war mit mehreren jüdischen Mitschülern befreundet, mit einem hat er in derselben Bank gesessen.
Die Gymnasiasten haben sich all dies schweigend angehört. Sie hatten keine Fragen, es gab keine Diskussion. Sie haben darüber auch auf dem Rückweg in die Schule nicht gesprochen. Sie haben überhaupt nicht gesprochen. Schweigend wie noch nie zuvor sind sie in das Kazimierz-der-Grosse-Gymnasium zurückgekehrt. Woran haben sie wohl gedacht? Ihr Betreuer, ein katholischer Priester, meinte, sie würden Zeit benötigen, um sich darüber Gedanken zu machen. Ihr Schulpatron, der König Kazimierz der Grosse, hat im 14. Jahrhundert die Juden nach Polen eingeladen. Das Zusammenleben war meistens, wenn auch leider nicht immer, friedlich. Hätten die deutschen Besatzer im Dezember 1939 nicht alle Juden aus Kazimierz Dolny hinausgeführt (und die meisten von ihnen kurz danach ermordet), könnte Ania heute ihre Schulbank mit Rachela und Marek seine mit Chaim teilen. Wie einst Karol (Wojtyla) mit Jurek (Kluger).
Wortlos hinter der Schulgruppe ging auch ich. Ein Gedanke wollte mich nicht loslassen - ich habe doch Brüder, ältere Brüder. Zum selben Schluss dürften ebenfalls meine Landsleute kommen. Viele tun es. Seit dem Tod Johannes Pauls II. wollen sich zahlreiche, vor allem junge, Polen als «Generation JP2» bezeichnen. Inwiefern es Mode oder eine Bewegung von Dauer ist, kann man noch nicht beurteilen. Der Sozialpsychologe Professor Zbigniew Necki findet die Bezeichnung interessant, aber virtuell. Sie warte noch auf den Inhalt, meint er. Doch das Erbe des polnischen Papstes wirkt allmählich - wir versuchen unsere Identität mit dem Gedächtnis zu verbinden. Wie in Kazimierz Dolny, wo jeder Stein polnisch und jiddisch ruft: «Pamietajcie o nas! / Giedenkt wegn uns!» («Gedenkt unser!»).
Maria Graczyk
* Diese Glosse ist am 1.04.2006 in der NZZ erschienen.
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