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Wer bin ich eigentlich? Jahrelang war ich eine Osteuropäerin, dann, in den neunziger Jahren, erfuhr ich, dass ich eine Mitteleuropäerin bin, und seit kurzem nennt man mich «Neu-Europäerin». Dabei habe ich nie meine Heimat gewechselt - seit 42 Jahren lebe ich in Polen. Seit einem Jahr ist mein Land Mitglied der Europäischen Union.
Was ist die EU? Mit dem Begriff «Europa» habe ich ähnliche Schwierigkeiten wie Augustinus mit dem Begriff «Zeit» - wenn niemand danach fragt, weiss ich, worum es geht. Wenn jemand Genaueres wissen will, kenne ich keine Antwort. Zuerst bekam ich schöne mythologische Worte zu hören: Demokratie, Freiheit, Vaterland. Kurz danach vernahmen meine Ohren zeitgenössische Ausdrücke: Nettoempfänger, Nettozahler, Billiglohnländer. Nicht weniger attraktiv klangen einst «fraternité», «solidarité», «égalité». Heute werden diese Worte von anderen überdeckt - «acquis communautaire», «negotiations», «délocalisation».
Ich kann nicht glauben, dass Robert Schuman und Konrad Adenauer sich Europa so vorgestellt hatten. Mit Interesse hörte ich von der «französisch-deutschen Lokomotive», inzwischen lese ich über das «europäische Friedenslager» und verschlucke mich bei den Namen des Dreigestirns Chirac - Schröder - Putin. Schuman wurde einst fast Priester, in seiner Heimat werde ich heute wegen meiner Religiosität ausgelacht. Als Studentin assoziierte ich Brüssel einst mit «l'Art nouveau», neu kommen mir die Brüsseler Bezeichnungen mittlerweile nicht vor. Bei «Kommissaren» und «Direktiven» denke ich nolens volens an andere, in meinem Land vergangene Zeiten.
Jean-Louis Bourlanges, ein unabhängig denkender französischer Europa-Abgeordneter, unterhielt sich jüngst mit Jan Rokita, dem liberalen Oppositionsführer aus dem polnischen Parlament, über Wohnungen. Das Gespräch war anregend. «Mit Ihnen ist es so, als ob Sie jahrelang an unsere Wohnung geklopft hätten, und als wir sie hereinliessen, klagten Sie - das Essen sei schlecht, die Wände seien abgekratzt, und überhaupt hänge da kein Bild der Mutter Gottes», sagte der Franzose, «warum haben Sie das nicht früher bemerkt?» Der Pole erwiderte: «Wir sind keine Gäste in der Wohnung - dies ist ein Denkfehler. Ihr habt nicht die Bekannten aus der Provinz für eine Weile eingeladen. Wir sind für immer eingezogen! Ihr habt eine Ehegattin genommen, die die Wände umstellen will, weil sie das Recht dazu hat.»
Adolf Muschg hat sich unlängst in einer Diskussion mit Jürgen Habermas in Warschau an einen Italiener erinnert, der im 19. Jahrhundert gesagt hat: «Wir haben Italien, nun brauchen wir Italiener.» Heute könnte man diesen Satz gut paraphrasieren: «Wir haben Europa, nun brauchen wir Europäer.»
Maria Graczyk
* Diese Glosse ist am 1.06.2005 in der NZZ erschienen.
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